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Editorial

Danach ist man immer schlauer

In der Vorrede zu seinen «Grundlinien der Philosophie des Rechts» schreibt Hegel: «Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.» Eine poetische Formulierung, die besagt, dass die Philosophie stets mit Verzögerung auf das Zeitgeschehen reagiert. Oder einfacher ausgedrückt: Im Nachhinein ist man immer schlauer. Dies gilt sowohl für die Erhaltung des Kulturerbes wie auch für die Finanzierung digitaler Kultur.

Im ersten Fall geht es darum, finanziell gewichtige Entscheidungen zu treffen über die verwendeten Archivierungsmedien. Die Technik entwickelt sich so schnell, dass heute getroffene Entscheidungen in zehn Jahren – oder sogar schon früher – bereits überholt sind, sodass alles noch einmal gemacht und folglich noch einmal bezahlt werden muss. Digitale Archivierung braucht zwar weniger Platz, doch gibt es bis heute kein Medium, das so langlebig ist wie das gute alte Filmmaterial. Sollten wir also von allen Filmen Negative erstellen, auch von denen, die vollständig digital produziert werden? Oder ist das zu kostspielig? Kaum wurden die Räumlichkeiten der Cinémathèque suisse in Penthaz eröffnet, stellen sich schon die ersten Fragen: Wird das neue Gebäude bald schon zu klein sein? Wie lange wird es mit den technischen Entwicklungen mithalten können, bevor neue Investitionen notwendig werden? Fragen, auf die zurzeit niemand eine Antwort weiss.

Am anderen Ende des Spektrums, wo die Kreativen neue Formen des Geschichtenerzählens erfinden und ausprobieren, stellen sich ganz ähnliche Fragen. Da die digitale Kultur eng mit dem technischen Fortschritt verbunden ist, sind die Entwicklungsphasen sehr lange – wie wenn ein Regisseur für jedes Projekt zuerst die richtige Kamera und den geeigneten Projektor entwickeln müsste. Um dies zu ermöglichen, braucht es beträchtliche Investitionen. Doch in welche Bereiche sollen wir investieren? Gewisse Techniken, wie zum Beispiel 3D, erschienen so vielversprechend, dass alle Kinosäle damit ausgerüstet wurden; wenige Jahre später stellte man fest, dass die Eintrittszahlen rückläufig sind. Manche befürchten, dass die aktuelle Begeisterung für die virtuelle Realität bald in sich zusammenfallen wird. Doch wird dies nicht zur selbsterfüllenden Prophezeiung, wenn wir nicht die nötigen Mittel bereitstellen, um die richtigen Geschichten für diese Erzählform zu entwickeln? Die Zurückhaltung der öffentlichen Geldgeber ist genauso gross wie der Enthusiasmus der Entwickler, und auch hier ist es unmöglich vorherzusagen, wer Recht behalten wird.

Die Situation gleicht einem Hund, der seinem eigenen Schwanz nachjagt: Wer abwartet, welche Technik sich durchsetzen wird, läuft Gefahr, der Entwicklung stets hinter­herzuhinken. Wer hingegen mutige Entscheidungen trifft, geht das Risiko ein, auf das falsche Pferd zu setzen. Da wir keine Kristallkugel haben, um die Zukunft vorauszusehen, trösten wir uns damit, dass beide Aussagen auch umgekehrt zutreffen: Wer abwartet, vermeidet möglicherweise Fehler, und wer gewagte Entscheidungen trifft, ist seiner Zeit möglicherweise voraus.

Pascaline Sordet

 

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