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Boxer, Banken, fremde Welten

Pascaline Sordet
02. August 2019

Fulvio Bernasconi, Regisseur (Bild: RTS/Jay Louvion)

Fulvio Bernasconi sieht etwas ermattet aus, als wir uns an einem Freitagmorgen im Juni in einem Lausanner Café treffen. Nach über 60 Drehtagen für die zweite Staffel von «Quartier des Banques» geniesst er eine Pause, bevor die Montage beginnt. «Quartier des Banques» ist die ambitionierteste Serie von RTS und eine der wenigen mit einer zweiten Staffel. Im Werdegang des Tessiner Regisseurs ist sie ein wichtiger Schritt: «Ich bin sehr naiv und versuche, mein Bestes zu geben. Ich bin mir des Drucks bewusst, doch alles was ich tun kann, um ihm zu begegnen, ist viel arbeiten und mich gut vorbereiten. Letztlich spielt die Grösse des Projekts keine Rolle. Die Führung der Schauspieler ist die Essenz meiner Arbeit, und ein grosses Team zu leiten bereitet mir eine Art kindliche Freude.» Das Kind, das er einst war, wäre begeistert: Damals war für ihn das Kino gleichbedeutend mit Western. Erst mit 17 Jahren hat er entdeckt, dass auch in der Schweiz Filme gedreht werden.

Fulvio Bernasconi wuchs – so erzählt er uns – in der kleinbürgerlichen Familie eines Arbeiterviertels auf. Er räumt ein, dass Gewalt, Ängste und existenzielle Konflikte ihn anziehen; Kammerspiele interessieren ihn nicht. Bei den Dreharbeiten zu seinen zahlreichen Fernseh­­dokumentarfilmen schätzte er vor allem den Kontakt zu den Menschen und die Möglichkeit, in Welten einzutauchen, die er sonst nie kennengelernt hätte: In Liberia patrouillierte er mit einem Grenzsoldaten in Monrovia, in Zimbabwe besuchte er die Slums von Harare. «Dies sind die offensichtlichsten Beispiele», erklärt er, erwähnt aber auch seine Erfahrungen mit Obdachlosen in der Schweiz – einer versteckten Welt mitten unter uns.

Bei Spielfilmen geht er nach dem gleichen Prinzip vor. Für «Fuori dalle corde», in dem es um illegale Boxkämpfe geht, betrieb er umfassende Recherchen unter Boxern, Journalisten, illegalen Kämpfern und den Drahtziehern des Milieus. «Ich denke, ich kann gut in die jeweiligen Milieus eintauchen», erklärt der Regisseur. «Ich stelle mich den Leuten als Hilfesuchender vor, als einer, der von ihnen lernen möchte, und begegne ihnen mit Respekt.»

 

Offenbarung in Warschau

Diese Art, sich den Leuten zu nähern, lernte er an der Filmschule DAVI. «Uns wurde stets gesagt: ‹Ihr werdet nie Regisseure werden›, und wenn, dann schafft es nur einer von zehn. Ich glaubte das nicht wirklich, aber doch ein bisschen.» Dies lehrte ihn Bescheidenheit und spornte ihn zu harter Arbeit an. Zuvor hatte er sich während seines Studiums der Politikwissenschaft einen «methodischen Ansatz» angeeignet, den er heute noch anwendet. Später besuchte er an der Wajda School of Directing in Warschau eine Masterclass, die für ihn eine Offenbarung war: «Ich habe den Einfluss des Kinos in einem Land entdeckt, in dem es wirklich wichtig ist, und war beeindruckt von der Grosszügigkeit der älteren Regisseure und der Freude, mit der sie ihr Wissen teilen. In der Schweiz ist dies nicht so, das wurde mir durch diese Erfahrung in Polen bewusst. Yves Yersin war in dieser Hinsicht eine Ausnahme.»

Aufgrund seiner Körpergrösse überragt Fulvio die meisten Menschen, doch er vermittelt nie den Eindruck, auf jemanden herabzuschauen. Er ist offen und grossherzig, redet gerne und verstellt sich nicht. So gesteht er zum Beispiel, er «schäme sich ein wenig dafür», dass er sich nicht besonders für Filmpolitik interessiert. Für die Ausbildung möchte er sich aber engagieren: «Die Schulen widerspiegeln die Bedeutung, die wir den verschiedenen Berufen in unserer Gesellschaft beimessen.»

Nostalgie ist bei Fulvio Bernasconi keine zu verspüren. Auf meine Frage, welche Filme Wendepunkte in seiner Karriere gewesen seien, antwortet er schlicht: «Die neusten Werke sind uns immer am nächsten». Wie «Miséricorde», der mehrmals zur Sprache kommt. Fulvio schaut sich seine eigenen Filme nicht an. Zuweilen erkennt er seine Bilder nicht einmal wieder, wenn er sie zufällig im Fernsehen sieht. «Sobald ein Film beendet ist, denke ich an die Zukunft.» Serien, Spielfilme, Dokumentarfilme, kurz oder lang, Kino oder Fernsehen: Fulvio arbeitet viel. «Ich freue mich darüber, dass die Produzenten Projekte an mich herantragen, und bin stolz auf die Filme, die so entstanden sind. Manchmal bedaure ich aber, dass ich nicht mehr Zeit für  Projekte aufwende, bei denen ich von Anfang an dabei bin. Zugleich habe ich das Glück, nur Filme zu machen, auf die ich wirklich Lust habe. Ich weiss, das ist ungewöhnlich.»

Nicolas Hislaire, Cutter der beiden Staffeln von «Quartier des Banques», bestätigt: «Fulvio ist einer der wenigen Auftragsregisseure der Schweiz. Ihm kann man ein Drehbuch in die Hand drücken und sicher sein, dass er es professionell umsetzt. Er ist nicht perfekt, aber er ist gerecht, ein ausgezeichneter Teamleiter, dem die Leute folgen.» Während der Dreharbeiten nimmt er sich trotz höchster Konzentration vor Beginn jeder Szene die Zeit, um «bitte» zu sagen.

 

Premio Cinema Ticino

Preisübergabe am Locarno Film Festival: 

14. August, 21:30, Piazza Grande

«Fuori dalle corde»:

15. August, 16:00, Kursaal

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02 August 2019

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