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Editorial

Locarno will jünger werden 

Auf einem der Videos, die jetzt im Internet kursieren, flaniert Lili Hinstin über die Piazza und am Seeufer von Locarno, beantwortet leger Fragen nach ihrem dortigen Lieblingsort, nach liebsten Filmgenres oder ihren Lieblingssong (es ist übrigens «Au Baccara» der französischen Band Odezenne). Auch in unserem Interview gibt sie sich nahbar, besonders wenn sie von Erinnerungen an das sommerliche Lussas spricht, das sie mit 19 zum ersten Mal besuchte, wo sie Dokumentarfilme schaute, diskutierte und auf Matratzen in einer Scheune übernachtete. Lili Hinstin kann aber auch anders: Wenn die 42-­jährige Pariserin über Filme spricht, vernimmt man eine Direktorin, die ihre Cinephilie auf eine intellektuell-­französische Weise zum Ausdruck bringt. Sie wirkt dabei, wie soll man sagen, auf eine spezifische Art cool.

In ersten Reaktionen wird Hinstin natürlich nach ihrer Film­auswahl bemessen. In den Medien wurde zum Teil ­irritiert vermerkt, dass Schweizer Filmschaffende nicht gerade bevorzugt behandelt werden. Aus Schweizer Sicht sei das Piazza-Programm eher dürftig, und auch in anderen Sek­tionen seien einheimische Produktionen rar, war zu lesen. An der Medienkonferenz erklärte Hinstin tatsächlich, sie wolle keine Schweizer Filme ins Programm aufnehmen, nur weil es Schweizer Filme sind: «Es sollen qualitative Kriterien zählen, keine diplomatischen.» Allerdings laufen vom 7. bis am 17. August nur minim weniger Schweizer Produktionen als zu Carlo Chatrians Zeiten. Und mit «Baghdad in My Shadow» von Samir oder «Wir Eltern» von Eric Bergkraut und Ruth ­Schweikert sind auch prominente Namen mit dabei. Schauen Sie in die Heftmitte!

An der Medienkonferenz erklärte Hinstin auch, wie wichtig es für das Festival sei, vermehrt junges Publikum anzu­ziehen. Damit spricht die Direktorin einen wunden Punkt an. Er betrifft die meisten Filmfestivals, aber auch andere Kultur­institutionen. Zwar sind Sektionen wie die Pardi di domani und die Cineasti del presente mit Erstlings- bis Drittlingsfilmen bei Jungen beliebt. Gefühlt liegt das Durchschnittsalter von Locarno jedoch meist so um die fünfzig. Letztes Jahr hat das Festival zusammen mit der SUPSI eine interessante ­Besucher-Statistik zu Kriterien wie Geschlecht, Herkunft oder Alter gemacht. Demnach bilden 46- bis 65-Jährige mit 38,3 Prozent die grösste Altersgruppe; 56,4 Prozent der Besucher sind älter als 45. Bis Dreissigjährige machen immerhin 25,6 Prozent der Zuschauer aus.

Seit ein paar Jahren bemüht sich Locarno deshalb vermehrt um die Jungen. Das «Youth Advisory Board», eine international besetzte Gruppe von acht jungen Leuten, berät das Festival nun im dritten Jahr zur Frage, wie das Angebot für Gleichaltrige verbessert werden kann. Auch die Summer ­Academy richtet sich an den Nachwuchs.

Seit diesem Jahr kommen noch zwei weitere Projekte hinzu, beide von Locarno Pro unter Leitung von Nadia Dresti initiiert: «Base Camp»  ermöglicht rund 230 jungen Kreativen einen praktisch kostenlosen Festivalbesuch: Die Übernachtung samt Frühstück in einer ehemaligen Kaserne in Losone sind gratis, der Festivalpass ebenso. Schliesslich hat die Alters­problematik nicht zuletzt mit den Preisen von Locarno zu tun, wo Hotelzimmer rar und teuer sind. Das zweite Projekt heisst U30, eine internationale Diskussionsplattform und ein «Think Thank» für Berufstätige unter dreissig aus den Bereichen Distribution, Verleih oder Marketing (mehr zum dreitägigen Programm in unserer neuen Rubrik Post-Skriptum).

Solche Initiativen sind sicher gute Angebote für junge Krea­tive. Das breite junge Publikum von Locarno hingegen muss mit weiteren Mitteln immer wieder neu gewonnen werden. Für Arthouse-Filme und den speziellen Locarno-Groove. Und für eine Destination, wo man Ferien machen kann von den Bildschirmen, die im Rest des Jahres fast alle Aufmerksamkeit absorbieren.

Kathrin Halter

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