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Das Filmerbe – ein neuer Markt?

Pascaline Sordet
16. Mai 2019

Teilnehmer am 75. Kongress der FIAF besuchen das Archivierungszentrum der Cinémathèque suisse in Penthaz.

Der Ausbau der Cinémathèque suisse ist demnächst abgeschlossen, dabei bleibt die Frage nach der Rolle von Archiven im digitalen Zeitalter aktuell. Einsichten vom FIAF-Kongress in Lausanne.

Die Digitalisierung macht den Filmarchiven zu schaffen. Weil sie die Praxis der Bewahrung unseres Kulturguts umkrempelt? Ja, aber nicht nur. Bis vor Kurzem waren die Werke des so genannten Filmerbes vor allem Sache der Kinematheken, einiger spezialisierter Kinos und Filmklubs. Um Klassiker zu entdecken, musste man auf Retrospektiven hoffen, die Programme studieren und Geduld haben. Fernsehen, VHS und schliesslich DVD haben den Zugang zum Filmerbe erleichtert, doch erst das Internet hat die Sache grundlegend verändert. Klassiker scheinen jetzt nur noch einen Klick entfernt zu sein.

Haben wir es wirklich mit einem Markt im kommerziellen Sinn zu tun? «Nicht wirklich», sagt Laurent Steiert, stellvertretender Leiter der Sektion Film beim BAK, «doch von einem ‹Markt› zu sprechen verdeutlicht, dass die Nachfrage des Publikums nach diesen Filmen wächst.»

Die Filmarchive reagieren auf diese Entwicklung, nicht weil es Geld einbringt, sondern weil es zu ihrem Auftrag gehört. Unter den kommerziellen Akteuren finden sich Fernsehsender wie Ciné+ Classic, ein Sender für Klassiker aus dem Canal+-Bouquet, der DVD-Verlag Carlotta Films sowie der New­comer LaCinetek, die Streaming-Plattform der Cinémathèque des Réalisateurs.

Sechs Gäste des 75. Kongresses der Internationalen Föderation der Filmarchive (FIAF) diskutierten im April auf Einladung der Cinémathèque suisse in Lausanne Fragen, die sich aufgrund zunehmenden Interesses stellen. Welche Rolle spielen die Institutionen, die die analogen Materialien dieser Filme gesammelt haben? Wie kann das Erbe vermittelt, wie kann das Publikum dabei begleitet werden? Die Themen wurden anschliessend auch in einem kleinen Gremium mit Professionellen aus der Schweizer Filmbranche besprochen, ohne Anspruch auf abschliessende Antworten.

 

Rechte müssen geklärt werden

Das Filmerbe taucht heute in einem Markt auf, der sich von den Verhältnissen bei ihrer Entstehung völlig unterscheidet. Die Verwertungs- und Urheberrechte sind dabei die grösste Herausforderung. Bruno Deloye, Direktor von Ciné+ Classic, ist sich dessen bewusst: «Es wäre schön, dieses Problem ausräumen zu können, doch in Realität ist es so, dass man die Rechteinhaber jedes einzelnen Films finden muss, in der Hoffnung, dass diese die Urheberrechte noch besitzen.»

Ein weiteres Problem ist das Geld. Nicht alle Archive verfügen über das nötige Budget, um Rechte zu erwerben. Kasandra O‘Connell, Leiterin des Irish Film Institute, hat eine kostenlose Streaming-Plattform für irische Produktionen eingerichtet, damit diese Filme für die gesamte Diaspora zugänglich sind. «Es handelt sich um eine DIY-Plattform, die auf Wordpress und Vimeo basiert», schmunzelt sie. Das Gesamtbudget des Projekts: 5ʼ000 Euros, plus 6ʼ000 pro Jahr für die Wartung und 2ʼ000 für die Entwicklung. Sie habe ihr berufliches Netzwerk davon überzeugt, die Filme kostenlos zur Verfügung zu stellen und so die fehlenden Mittel zu kompensieren.

Die Filmarchive selbst besitzen die Rechte an den Filmen in ihren Depots nicht immer, also müssen sie sie erwerben oder hoffen, dass die Rechteinhaber sie ihnen abtreten. Jon Wengström ist der Leiter der Filmsammlung des Svenska Filminstitutet in Stockholm, das sich in genau dieser Situation befindet: «Wir besitzen keine Rechte an den Filmen in unseren Beständen, doch wir sorgen dafür, dass die Rechtekette klar ist, was die Produzentinnen und Produzenten zwingt, ihren Katalog zu überprüfen und alle Rechte zu erneuern.» So bleiben weniger historische Filme «blockiert», weil niemand weiss, wem sie gehören.

Eine Knacknuss, die nicht immer lösbar ist. Jean-Baptiste Viaud, Vertreter der Cinémathèque des Réalisateurs bedauert: «Uns ist es bei etwa zwei Prozent der Filme nicht gelungen, die Rechtekette zurückzuverfolgen.» In solchen Fällen ist es unmöglich, die Werke anzubieten. Bruno Deloye plädiert für eine Stärkung der Rolle der Filmarchive: Durch die Klärung der Rechtekette weltweit «werden die Filmarchive zur einzigen Anlaufstelle» für alle anderen Filmvermittler.

 

Filme sollten vermittelt werden

Das zweite Problem, das nicht unbedingt einfacher zu lösen ist: der Zustand der Kopien. Soll man die Filme erst nach einer optimalen und somit teuren Restaurierung zeigen? Da gibt es verschiedene Strategien. LaCinetek hat sich entschieden, die Filme auch dann zu zeigen, wenn das Bild nicht gut ist, dies aber klar mitzuteilen: «Wir sind der Meinung, dass Filme es verdienen, gesehen zu werden, lieber in schlechter Qualität statt gar nicht«, erklärt Jean-Baptiste Viaud. Dieselbe Strategie verfolgt auch das irische Institut.

Die bei Cannes Classics eingereichten Filme befinden sich in der Regel im Restaurie­rungsprozess, sagt Gérald Duchaussoix, der für die Sektion zuständig ist. Bevor die Auswahl abgeschlossen ist, «bitte ich um Muster von den Restaurierungen, weil nicht alle Labors nach gleichen Kriterien arbeiten. Wenn der technische Standard einer Kopie jenem einer DVD aus dem Jahr 2001 entspricht, ist es nicht möglich, den Film am Festi­val von Cannes vorzuführen.»

Das schwedische Filmarchiv hat sich für die Einrichtung eines eigenen Labors entschieden, um die Kosten zu senken und einen konstanten Standard zu gewährleisten. Der Direktor sagt, dass pro Film ein Budget von 8ʼ000 Euros vorgesehen ist, was im Saal für grosse Aufregung sorgt. «Eine kommerzielle Restaurierung wäre viel teurer», bestätigt Jon Wengström, erklärt jedoch nicht genau, wie ein so niedriger Betrag möglich ist.

Ein neuer Markt bedeutet auch, dass ein Publikum aufgebaut werden muss. Weil ein Film zu den Klassikern zählt, heisst das nicht, dass er sich selbst genügt. Die französische Filmverleih- und Editing-Firma Carlotta Films wurde zur Zeit der VHS-Kassetten gegründet. Ihr Direktor, Vincent Paul-Boncour, ist überzeugt, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden sollten, um die Filme zu vermitteln. Neben DVDs gibt Carlotta Films auch Bücher zu Filmen heraus, um ihre Vermittlung zu fördern. Indem man auf verschiedenen Plattformen und Medien präsent sei, biete man unterschiedlichen Zuschauersegmenten einen  Zugang zu den Werken an.

Laurent Steiert argumentiert ähnlich: «Das Filmerbe kann nicht losgelöst von den Filmschaffenden betrachtet werden, egal ob diese noch leben oder nicht. Der Markt muss diese Dualität akzeptieren.» Bei Ciné+ Classic sind es die Dokumentarfilme über das Filmschaffen, die diese Vermittlungs­aufgabe übernehmen: «Alles jederzeit und allen zur Verfügung zu stellen, ist illusorisch. Es braucht eine verlegerische Arbeit, das Kuratieren. Es reicht nicht, die Filme bloss auf eine Liste zu setzen.»

 

Schweizer Filme kostenlos anbieten?

Ein neuer Markt bedeutet auch neue Kompetenzen. Wenn das Publikum begleitet werden soll, gilt dies auch für die Produzentinnen und Verleiher. Gérald Duchaussoix ist nicht nur für Cannes Classics zuständig, er ist auch Projektleiter am Internationalen Markt für klassische Filme des Festivals Lumière in Lyon, dem wichtigsten Markt im Bereich des Filmerbes. Sein Ziel ist, die Verwertungskette des klassischen Films zu strukturieren, einen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen und Standards zu etablieren: «In Cannes sind wir laufend daran, mit den Labors, den Filmschaffenden und den Ländern die rechtlichen Fragen zu klären. Wir sind überzeugt, dass es das Bedürfnis nach einem Ort des professionellen Austausches zu diesem Thema gibt. Auch verleiht dieser Markt Filmen, die dem europäischen Publikum weniger bekannt sind, mehr Sichtbarkeit.»

Und schliesslich zählt jeder produzierte Film zum künftigen Kulturerbe. Für den Geschäftsführer von Cinéforom, Gérard Ruey, sollten die mit öffentlichen Geldern geförderten Schweizer Filme nach der kommerziellen Auswertung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Das BAK teilt diese Meinung. Doch wenn Werke des Filmerbes für VoD-Anbieterinnen und -Anbieter tatsächlich einen Markt darstellen, dann ist die Frage eine politische: «Wenn alle Schweizer Filme auf einer Plattform kostenlos verfügbar sind, haben andere Plattformen kein Interesse daran, Schweizer Filme zu behalten», sagt Andreas Furler, Gründer der Streaming-Plattform Cinefile. Fazit: Dieser neue Markt erfordert ein neues Geschäftsmodell, was in der Schweiz zu einer Anpassung der öffentlichen Förderung führen dürfte.

 

 

▶  Originaltext: Französisch

Das Förderprogramm von Suissimage

Von 2015 bis 2017 lancierte die Kulturkommission von Suissimage ein Programm zur Förderung der Digitalisierung von Schweizer Filmen, das eine neue Auswertung oder eine Fortsetzung der Auswertung von Langfilmen, die analog gedreht wurden, ermöglichen sollte. Viele Filme, sogar relativ neue, konnten nicht mehr in ihrem ursprünglichen Format im Kino gezeigt werden, die Online-Auswertung funktionierte nur noch mit digitalen Inhalten. Mit Fördersummen von 12ʼ000 bis 20ʼ000 Franken, je nach Dauer des Films, investierte die Stiftung insgesamt 571ʼ658 Franken in die Digitalisierung von 35 Filmen, von denen zehn zurzeit noch bearbeitet werden. Da es sich um eine Anreizförderung handelte, mussten die Rechteinhaber aktiv werden und die Kosten finanzieren. Die Fördersumme, die pauschal aufgrund der Filmdauer berechnet wird, wird erst ausgeschüttet, wenn das Filmarchiv das digitale Material erhält. Suissimage erhielt viel weniger Anfragen als erwartet, was teilweise auf finanzielle, aber auch auf zeitliche Gründe zurückzuführen ist. Dabei ist zu bedenken, dass die Mini-Programme von ­Suissimage als Anstösse gedacht sind, die danach von anderen Programmen aufgegriffen werden.

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