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Clara, Shana, Schellenursli

Kathrin Halter
16. Mai 2019

«Shana - The Wolf's Music» (2014) von Nino Jacusso

Kinderfilme werden in der Schweiz zu wenig ernst genommen, eine ganze Kultur liegt brach. Nun will sich eine neue Interessengruppierung dafür starkmachen. Und der Kulturfonds Suissimage will schon bald die Entwicklung von Kinderfilmstoffen fördern.

«Heidi» war schon toll: Eine Produktion aus der Schweiz, die – ähnlich wie «Schellenursli» oder «Ma vie de Courgette» – bewiesen hat, dass Kinderfilme hierzulande gross herauskommen können. Alain Gsponers Adaption von 2015 wurde in 25 Länder verkauft, eine halbe Million Zuschauer haben den Film allein in der Schweiz gesehen.

Es ist allerdings nicht so, dass diese Erfolge den Kinderfilm in der Schweiz neu belebt hätten. Die Produzentin Julia Tal formuliert es so: An «Heidi» kann man sich nicht messen. Wer kommt schon an gegen einen Mythos, einen universal verständlichen Jahrhundertstoff, bekannt von Chile bis Japan, der Sehnsüchte aus der eigenen Kindheit wachruft? Viele Schweizer Klassiker von den Schwarzen Brüdern bis zur Kleinen Hexe sind verfilmt und ausserhalb der Literaturverfilmungen fehlt eine eigenständige Kinderfilmtradition.

Für die Produzentin wären jetzt zeitgemässe Originalstoffe gefragt. John Wäfler, seit 15 Jahren beim mobilen Kino Roadmovie und Mitbegründer des Kinderfilmfestivals Zoomz in Luzern, sieht das ähnlich. Ein Erfolg wie «Heidi» trage dazu bei, das Kinderfilm­schaffen sichtbar zu machen. Für ihn braucht es jedoch unbedingt zeitgemässe Vorbilder, Rollenmuster und Werte, und solche finden sich naturgemäss kaum in Vorlagen, die schon unsere Grosseltern lasen.

Julia Tal und John Wäfler sind zwei Gründungsmitglieder der neuen Arbeitsgruppe Kinderfilm, die im letzten Herbst gebildet wurde; mit dabei sind Leute aus der Produktion und Distribution wie Carola Stern von Focal, Anna Neuenschwander vom Kinder- und Jugendfilmfestival Castellinaria, die Animationsfilmerin Lynn Gerlach oder Romana von Gunten, Kinobetreiberin in Solothurn. Man will ein Netzwerk bilden, Veranstaltungen organisieren und mehr Bewusstsein für Kinderfilmkultur schaffen.

Der erste öffentliche Anlass der Gruppe fand Ende März am Kinderfilmfestival Zoomz in Luzern statt. Titel der Weiterbildungsveranstaltung: «Über Heidi hinaus». Ein Panel diskutierte die Frage, was getan werden muss, damit in der Schweiz mehr Kinderfilme produziert werden. Für Vorträge eingeladen waren unter anderem Signe Zeilich-Jensen, Kinderfilm-Beauftragte beim holländischen Filmfonds, die über die Beurteilung von Kinder­filmstoffen sprach; der belgische Produzent Dries Phlypo (A Private View) referierte über «Stolpersteine der ProduzentInnen im Entwicklungsprozess von Kinderfilmen».

 

Nordische Länder machen es vor

Holland und Belgien – das ist kein Zufall. Ihr Aha-Erlebnis in Sachen Kinderfilm hatte Julia Tal, als sie beim Producers Workshop EAVE skandinavische und holländische Kinderfilme entdeckte. Dass nordische Länder erfolgreich zeitgenössische Originalstoffe für Kinder produzieren, wusste sie gar nicht. Kein Wunder: In unsere Kinos gelangen solche Produktionen nämlich fast nie; zu sehen sind sie höchstens an spezialisierten Festivals wie dem Castellinaria in Bellinzona, dem Festival Cinéma Jeune Public in Lausanne, dem Zoomz in Luzern oder in der Programmreihe ZFF für Kinder.

Wieso aber ist so etwas bei uns nicht möglich, fragte sich Julia Tal und begann zu recherchieren. Zwar sind in den letzten Jahren vermehrt Literaturverfilmungen entstanden wie Nino Jacussos «Shana, The Wolf's Music» (nach dem Buch von Federica de Cesco) oder Tobias Ineichens «Clara und das Geheimnis der Bären» (nach einem holländischen Kinderroman). Eine der seltenen Ausnahmen, die nicht auf einer Literaturvorlage basiert, ist Stefan Jägers «Horizon Beautiful» (Bild unten). Es gibt hierzulande viel zu wenige solche Produktionen, um jenen Humus zu bilden, der eine ernst zu nehmende Kinder- und Jugendfilmkultur entstehen liesse.

Ein filmpolitischer Anreiz könnte etwas bewegen. Das zeigen nordische Länder, wo der Kinderfilm bewusst gefördert wird. Zwei Beispiele: So gehen 25 Prozent der staatlichen Filmförderung von Dänemark in den Kinder- und Jugendfilm. Und in Holland sind 24 Prozent aller holländischen Produktionen Kinderfilme, ihr Marktanteil beträgt 44 Prozent. Auch eine gesonderte Betriebsförderung existiert dort, damit die Filme danach auch im Kino konkurrenzfähig sind.

Nun hat auch die Schweiz bald ihr erstes Förderprogramm, dank dem Kulturfonds Suissimage, der ab Herbst 2019 die Entwicklung von Kinder­filmstoffen fördern will (siehe Box). Eine erfreuliche Sache.

Doch lässt sich eine solche Kinderfilmkultur quasi herbeifördern? Braucht es nicht zuerst mehr Eingaben von Filmschaffenden? Julia Tal widerspricht: Das Interesse könnte sehr wohl da sein, Filmschaffende jedoch hätten das Gefühl, dass sie mit Kinderfilmstoffen sowieso keine Chance haben, oftmals nicht wissen, wohin sie mit ihren Stoffen gelangen sollen, da es kaum dafür spezialisierte Produzenten gibt. Viele Produzenten wiederum hätten keine Lust, sich auf Kinderfilm-Originalstoffe einzulassen, weil die Förderung angeblich nicht mitzieht und die Auswertungs-Situation unbefriedigend ist. Man müsste eben in jedem Bereich Aufbauarbeit leisten, meint John Wäfler. 

Umgekehrt haben Erfolgsbeispiele aus dem Ausland bewiesen, wie eine positive Dynamik entstehen kann. So hat der Flanders Audiovisual Fund in Belgien vor wenigen Jahren entschieden, jährlich einen Kinderfilm zu produzieren und ist gleichzeitig dem renommierten Script Lab von Cinekid als Partner beigetreten. Auf einen Aufruf gab es 70 Eingaben – für alle eine Überraschung.

Ein weiteres Anliegen der AG Kinderfilm ist die Sensibilisierung von Kommissionsmitgliedern auf die Besonderheiten von Kinderfilmstoffen. Die Beurteilung von Kinderfilm-Drehbüchern setzt ein spezifisches Wissen voraus. Der holländische Filmfonds zum Beispiel hat deshalb eine Kinderfilm-Beauftragte, die ausschliesslich für die Beurteilung und Begleitung von Kinderfilmproduktionen zuständig ist.

Das Gedeihen des Kinderfilms in nordischen Ländern hat allerdings auch historische Wurzeln. John Wäfler: «Wo der Kinderfilm stark ist, gibt es traditionell auch eine breitere Kinderkultur, mit Kindermuseen und ähnlichem. Diese wird ernstgenommen und geniesst ein hohes Ansehen, ähnlich wie in den osteuropäischen Ländern vor der Wende». Anders sieht es bei uns aus. Kinderfilme gelten hierzulande oft als «Kinderkram»; es gibt ein Statusproblem.

Mit der Literaturszene zusammenspannen

Die AG Kinderfilm will jetzt Veranstaltungen zur Stoffentwicklung von Originalstoffen anbieten, aber auch DrehbuchautorInnen mit Kinder- und JugendbuchautorInnen zusammenbringen. Die Literatur- und die Filmszene existiere weitgehend getrennt voneinander; nun will man mehr kooperieren.

Zweifellos gäbe es auch noch mehr Literaturvorlagen, von Federica De Cesco und Franz Hohler bis zu jüngeren Autorinnen. Auch die Bilderbuchliteratur und die Illustration darf man nicht vergessen, in der die Schweiz traditionell stark ist. Produzentin Julia Tal selber hat gerade zwei Originalstoffe in Entwicklung. Und Karin Heberlein, ein weiteres Mitglied der AG Kinderfilm, wird demnächst mit den Dreh­arbeiten zu «Sami, Joe und Ich» beginnen. Bleibt die Frage, was in den Kinos geschieht – jenseits der üblichen Disney-Filme und (im Fall der Deutschschweiz) deutscher Jugendfilm-Komödien. Zwar gibt es neben dem Kinderfilmclub Zauberlaterne vereinzelte Initiativen wie das «Houdinli» in Zürich. Doch das sind mehr jene Ausnahmen, die die Regel bestätigen; nach Wäfler jedoch zu wenig für jenen Humus, der eine Kinderfilmkultur benötigt. Er verweist wieder auf Länder wie Holland, die dank gezielter Förderung mehr Vielfalt im Kino ermöglicht haben. Immerhin geht es um unser Kinopublikum von morgen.

 

▶  Originaltext: Deutsch

200ʼ000 Franken für Kinderfilm- Stoffe

Nun hat auch die Schweiz bald ihr erstes Förderprogramm: Der Kulturfonds Suissimage fördert ab Herbst 2019 die Entwicklung von Kinderfilmstoffen mit einem jährlichen Budget von 200ʼ000 Franken. Wie diverse Branchenveranstaltungen der letzten Zeit gezeigt hätten, werden Kinderfilme in vielen europäischen Ländern als Teil der Filmkultur und Filmbildung speziell gefördert. In der Schweiz hingegen seien Kinofilme rar, die sich mit zeitgemässen Originalstoffen an das jüngste Publikum wenden. Mit dem neuen Förderprogramm möchte der Kulturfonds AutorInnen und RegisseurInnen von Spiel- und Dokumentarfilmen dabei unterstützen, ihre Ideen und Drehbücher für Kinder bis 12 Jahren zu entwickeln. Das Reglement wird zur Zeit erarbeitet und im Juli publiziert unter www.suissimage.ch

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