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Künstliche Intelligenz als Hilfsmittel des Kinos

Kathrin Halter
12. Februar 2019

Können Roboter Drehbücher schreiben? Oder wenigstens voraussagen, ob sich die Umsetzung lohnt? So jedenfalls lautet das Versprechen der künstlichen Intelligenz.

Wer im Journalismus arbeitet, bekommt in regelmässigen Abständen zu hören, dass unsere Arbeit eines Tages von einem Computer erledigt werden wird. Im Übrigen erzielen künstliche Intelligenzen schon jetzt gute Resultate bei der Herstellung von Zeitungstexten zum Börsenverlauf oder zu Sportergebnissen. Die Zukunft ist bereits eingetreten, aber ich versichere Ihnen, hier spricht kein Roboter.

Computer leisten Beachtliches, wenn es darum geht, Daten zu erfassen, zu vergleichen und zu analysieren; drei Vorgänge, die einen guten Teil journalistischer Arbeit ausmachen. Trotzdem bleibt ein Rest an Kreativität, über den Journalisten verfügen, womit Computer aber ihre Mühe haben, ein Gefühl auch für Zeitgeist, ein Gespür für Gesprächspartner und ihren Tonfall. Man möchte Pythagoras Lügen strafen, für den «alles Zahl» ist, und Galileo, der uns versichert, dass «das Buch der Natur in mathematischer Sprache geschrieben» sei.

 

Alles ist Datum

Was das Kino anbelangt, so ist viel von Fortschritten in den Bereichen Animation, virtuelle Realität und Spezialeffekte die Rede, kaum hingegen wird künstliche Intelligenz in einer anderen Produktionsphase genutzt: dem Schreiben. Und doch ist es mit «deep learning» mittlerweile möglich, auf maschineller Basis Lerneffekte zu erzielen, indem grosse Datenmengen miteinander abge­glichen und anschliessend auf vermeidbare Fehler hin untersucht werden. Genau so arbeiten die Suchalgorithmen von Gmail, die auf der Grundlage von Mails passgenaue Vorschläge machen. Je grösser die Datenmenge, desto besser arbeitet das System. Ziel der Forscher bei der Entwicklung dieser Technologie innerhalb der Kreativindustrien ist es unter anderem, eine Intelligenz zu schaffen, die eine grosse Anzahl von Drehbüchern liest und auswertet, um sie eines Tages selbst schreiben zu können.

Ist also alles und jedes als Datum quantifizierbar? Ich habe die Frage Anna Jobin gestellt, einer Soziologin und Fachfrau für neue Technologien: «Da verweisen Sie auf eine der zentralen Debatten: Nach meinen Recherchen lautet die Antwort nein. Eines der grossen Versprechen der Digitalisierung besteht darin, die Welt auf ein Ensemble von Daten zu begrenzen, das man erfassen und interpretieren kann, dabei weiss man doch, dass die menschliche Erfahrung etwas Unbegreifliches mit einschliesst. Eine künstliche Intelligenz kann Schreibrhythmen erfassen, Motive, Wiederholungen, Übereinstimmungen und Divergenzen innerhalb enormer Textmengen aufspüren, dank hoher Rechenleistungen Ähnlichkeiten finden, die sich dem menschlichen Blick entziehen. Kann das zu interessanten Ergebnissen führen? Ja. Löst das etwas in uns aus? Ja. Aber auf diesem Weg findet man niemals zum Kern dessen, was einen guten Film ausmacht».

Im französischen Sprachraum heisst es gern: Schreiben lernt man nicht. Anders als in der angelsächsischen Welt wird die handwerkliche Seite des Drehbuchschreibens misstrauisch beäugt, die Vorherrschaft des Autors hält sich hartnäckig. Sind intelligente Roboter in diesem Milieu überhaupt denkbar?

 

Der Roboter als Schriftsteller

Versuche mit künstlicher Intelligenz wurden bislang in der Literatur unternommen, vor allem innerhalb stark regelhafter Genres wie dem Trivialroman oder der Science Fiction. Im Dezember 2017 hat der Schriftsteller Stephan Marche auf englisch eine in Wired veröffentlichte Kurzgeschichte namens «Twinkle Twinkle» verfasst, bei der er sich eines Programms zur Identifizierung von Stil- und Strukturelementen innerhalb von Texten bediente. In diesem Fall ist KI zwar nicht Autor, aber eine Art Redaktor, der Leitlinien gibt und zwingende Vorschläge zur Optimierung der Geschichte macht.

Selbst wenn das Ergebnis lesbar ist – ohne deswegen packend zu sein – läuft der Autor Gefahr, Probleme zu wiederholen. Er bemerkt zum Beispiel, dass Frauen in den fünfzig Romanen, die er der KI zu lesen gegeben hat, unterrepräsentiert sind, und sieht sich vom Programm aufgefordert, es dabei zu belassen: «Der Algorithmus hat mir gesagt, zu welchem Prozentsatz der Text aus Dialogen bestehen soll und welche Anzahl von Dialogen von weiblichen Personen bestritten werden soll. Es hat sich herausgestellt, dass bei den von mir ausgewählten Geschichten nur 16,1 Prozent der Dialoge aus weiblicher Sicht geschrieben sind. Also habe ich aus Anne eine schüchterne Person wie aus dem Lehrbuch machen müssen und aus all den Männern in ihrer Umgebung besserwisserische Arschlöcher».

Roboter erfinden nichts, und keine Technologie kommt aus heiterem Himmel. «Um Motive, Unstimmigkeiten und Entsprechungen ausfindig zu machen, benötigt die KI enorme Mengen bereits existierender Daten, und woher kommen die? Aus geschichtlichen Quellen, die die Sichtweise einer bestimmten Epoche und ihrer Vorurteile widerspiegeln, sagt Anna Jobin. Der zweite Punkt: Die Parameter der Algorithmen im Innern der KI müssen eingestellt werden. Es sind also letztlich Menschen, die entscheiden, was sie herausfinden wollen und was nicht».

 

Der Roboter als Regisseur

Für den Einsatz im Kino schufen Regisseur Oscar Sharp und der Forscher Ross Goodwin eine künstliche Intelligenz, die sich selbst den Namen Benjamin gab. Nach der Lektüre von rund hundert Science-Fiction-Drehbüchern schrieb der Computer «Sunspring», eine Ansammlung lustig unverständlicher, aber grammatikalisch korrekter Dialoge. Die beiden zogen mit einem zweiten Kurzfilm nach, «Zone Out», der vom Drehbuch bis zur Montage komplett von Benjamin entwickelt wurde. Die mit synthetischer Stimme vorgetragenen Dialoge sind auf ähnlich seltsame Weise vergnüglich («Willst du etwa behaupten, Menschen könnten zur Zerstörung menschlicher Wesen beitragen?»), doch alles in allem fühlt man sich an eine schlecht synchronisierte face-swap-Parodie erinnert. Die Technik, bei der ein Gesicht durch ein anderes ersetzt wird, findet auch in einem anderen Bereich Anwendung, der Pornoindustrie. Vermittels deep-fake-Verfahren werden Gal Gardot, Emma Roberts oder Margot Robbie in Szene gesetzt – also sehr oft Frauen –, mit allen ethischen Fragen, die das aufwirft.

Künstliche Intelligenz entfaltet dort ihre Stärken, wo sich Sachverhalte von A bis Z quantifizieren lassen, etwa bei der medizinischen Bildanalyse; zur Erzeugung von Geschichten und Emotionen eignen sie sich weitaus weniger. Weil die Maschine nicht über das zuvor in sie Einprogrammierte hinausgeht, ist ihre «Kreativität» entweder sehr formelhaft oder sehr surrealistisch, aber nichts dazwischen, präzisiert Anna Jobin. In einem Interview mit Le Temps hat der Direktor der Forschungsabteilung von Facebook im Oktober den Sachverhalt mit dem Satz auf den Punkt gebracht: «In offenen Situationen, wo spontane Entscheidungen gefragt sind, fehlt es Maschinen an gesundem Menschverstand, sie denken weder zusammenhängend noch global. Deshalb bleibt ein Roboter von heute noch immer hinter der Intelligenz einer Ratte zurück».

Wenn also künstliche Intelligenz Drehbuchautoren nicht ersetzen kann, so bleibt die Hoffnung, dass sie eine Art Mitarbeiter werden kann – als Generator von Ideen. Aus einem extrem grossen Pool von Handlungselementen könnte der Computer Vorschläge für den weiteren Verlauf einer Geschichte machen. Er könnte ausserdem das Gerüst eines Projekts oder einer Szene mit Hunderten anderer vergleichen und daraus Schlüsse über Erfolg oder Scheitern ziehen  – ohne dem Menschen den final cut abzunehmen. Das jedenfalls verspricht ScriptBook, ein belgisches Unternehmen, das künstliche Intelligenz in diese Richtung vorantreibt. Die Arbeitshypothese ist so alt wie die aristotelische Poetik und besagt, dass die grundlegenden Erzählmuster sich weltweit ähneln, und dass Dramaturgien, die «funktionieren», abzählbar sind (dem französischen Schriftsteller George Polti zufolge sind es 36 Muster).

 

Der Roboter als Lektor

Im Kern geht es bei ScriptBook jedoch nicht um die Herstellung neuer Drehbücher. Das eigentliche Angebot des Startup-Unternehmens an die Produktionsfirmen besteht im Test ihrer Drehbücher auf Rentabilität hin. Künstliche Intelligenz ist in dem Fall also eher Lektor als Autor. Es habe sie verblüfft, erzählt Nadira Azermai, Gründerin von ScriptBook, als ihr klar wurde, dass die Entscheidung, einen Film zu produzieren, seit den Anfängen des Kinos immer auf die gleiche Weise zustande kommt. Also hat sie das getan, was gute Unternehmer zu tun pflegen: Ein Problem erfassen, wo man keines vermutet hat, und dafür eine technische Lösung finden. Einspielergebnisse, Budgets und Zuschauerzahlen von Filmen werden systematisch in Beziehung zu den Drehbüchern gesetzt – die ja im Grunde nichts anderes sind als komplexe, aber relativ standardisierte Textdaten –, dann miteinander verglichen, um Voraussagen über den Erfolg zukünftiger Projekte zu machen.

Um die 5000 Dollar kostet es, das Drehbuch für einen abendfüllenden Spielfilm ins System einzuspeisen und daraus innerhalb von 48 Stunden eine Bewertung des Erfolgs sowohl an der Kasse als auch bei der Kritik abzuleiten, dazu Informationen zur Handlung, zu Rollen- und Zielgruppenanalyse sowie der bestmöglichen Verkaufsstrategie. Ohne Anspruch auf Unfehlbarkeit behauptet ScriptBook, diesbezüglich dreimal so zuverlässig zu sein wie der Mensch. «Schon möglich, dass eine Maschine effizienter ist als ein Mensch, aber deswegen zu behaupten, sie könne menschliche Entscheidungen voraussagen oder wissen, was das Publikum fühlt, ist Unsinn», sagt hingegen Anna Jobin. «Ausserdem kommt es darauf an, um welche Menschen es geht. Man weiss, dass divers zusammengesetzte Teams leistungsfähiger sind als hinsichtlich Geschlecht, Herkunft und Einstellung homogene. Je unterschiedlicher die Lebensläufe und Erfahrungen der beteiligten Fachleute, desto höher die Erfolgsquote».

Die am häufigsten wiederkehrende Be­fürchtung lautet: Neue Technologien führen zu einer Gleichschaltung der Kinolandschaft. Angesichts einer Zeit, in der die Studios bis zum Überdruss Sequels zusammenschustern und das grosse amerikanische Kino für 90 Prozent der Kassenerfolge verantwortlich ist, denke ich allerdings, dass wir an dem Punkt längst angelangt sind. Die Antwort von ScriptBook besteht darin, bei der Analyse nicht so sehr auf absolute Zahlen zu setzen als auf das Einspielergebnis im Verhältnis zum Investment. Die mit grossem finanziellen Aufwand produzierten Blockbuster bringen im Vergleich weniger ein als Filme mit kleinerem Budget, wenn sie ihr Publikum finden. So hat der Algorithmus, um nur ein Beispiel zu nennen, den Erfolg eines Films wie  «La La Land» von Damien Chazelle treffsicher vorausberechnet, einer Musikkomödie, die der Regisseur ohne den Erfolg von «Whiplash» niemals finanziert bekommen hätte.

 

Eine nüchterne Stimme

Wenn die Erfolgsquote wirklich so hoch liegt wie ScriptBook behauptet, nämlich bei 84 Prozent, sollte das die Stimmung bei den Studios heben. Wäre der Rückgriff auf ein solches Werkzeug auch in der Schweiz denkbar, wo die Filmkommissionen bei begrenzten Mitteln immer mehr Projekte bewerten müssen – einfach um den Entscheidungsprozess etwas zu erleichtern? Die Kommissionen könnten sich, bevor sie zur künstlerischen oder kulturellen Bewertung gehen, auf bezifferbare Voraussagen hinsichtlich Erfolg, angestrebtes Gleichgewicht zwischen Ausgaben und Einnahmen oder sonstige Kriterien stützen, das Ganze natürlich mit Blick auf die Besonderheiten der drei einheimischen Märkte.

Dafür müsste man zunächst einmal die unangenehme Vorstellung überwinden, dem Urteil von Robotern ausgesetzt zu sein. «Einige könnten es vorziehen, Roboter urteilen zu lassen, weil es den Anschein von Neutralität erweckt, das Fehlen von Begünstigung», vermutet Anna Jobin, «aber eine Entscheidung an Roboter zu delegieren ist alles andere als neutral.»

Vielleicht erzeugt es weniger Widerstand, wenn die von ScriptBook entwickelte künstliche Intelligenz bloss Hinweise für den Filmvertrieb generiert. Durch das Erfassen von Zielgruppen lassen sich Formen der Distribution ableiten, damit Zuschauer und Film zueinander finden. So würde der Computer Testvorführungen und Marktstudien ersetzen.

Schliesslich habe ich die Soziologin noch gefragt, ob Roboter Fantasie haben. Ihre Antwort: Das sei gar nicht so wichtig. «Wir sind nicht an Kreativität an sich interessiert, sie ist kein Endzweck, sondern nur ein Ausdrucksmittel. Bei Problemlösungen kann ein Computer kreativ sein, aber das ist es nicht, was Kultur ausmacht: die Welt zu zeigen, die Ungleichheiten, wer wir sind, unsere Visionen».    




▶  Originaltext: Französisch

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