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Drehbücher gehören zur Literatur

Pascaline Sordet
21. Dezember 2018

Lesesaal in der Abteilung Musik der ZB Zürich, wo auf Anfrage Schweizer Drehbücher eingesehen werden können. © Meier-Kopp

Die Zentralbibliothek Zürich hat ein Archiv für Schweizer Drehbücher ins Leben gerufen. Es gewährt Cineasten und Forschern Einblick in die fertigen Dokumente samt ihrer Vorstufen, unabhängig davon, ob der Film realisiert worden ist.

Das allererste archivierte Drehbuch, das mit dem Eintrag 1.1, gehört zum Film «Die Schweizermacher» von Rolf Lyssy, dem landesweit grössten Kassenschlager aller Zeiten. «Purer Zufall!», versichert Irene Genhart, die als wissenschaftliche Bibliothekarin bei der Zentralbibliothek Zürich für den Film zuständig ist. Seit fünfzehn Jahren sucht, sammelt, digitalisiert und klassifiziert die Institution alle in der Schweiz geschriebenen Drehbücher seit Beginn des einheimischen Kinos. «Ein couragiertes Unterfangen», sagt Irene Genhart, gewiss auch ein ehrgeiziges, das 2004 aus einer Anfrage des Seminars für Filmwissenschaft an der Universität Zürich hervorging.

Bei Erscheinen eines Films wird das Drehbuch unwichtig. Man liest es nicht mehr, man redet nicht mehr darüber, was zählt, ist allein das Resultat: der Film. Das Drehbuch führt ein verschwiegenes Nachleben in Kartons. Besten­falls bleibt es dort, in einem guten Zustand, schlechtestenfalls verschwindet es komplett, ein Opfer von Zeit, Witterung und Umzugsaktionen. Doch auch wenn ein Drehbuch vor allem Werkzeug ist, es handelt sich um eine spezielle, unmittelbar auf das Theater zurückgehende Form der Literatur.

Vom Reichtum des Erbes überzeugt, sammelt die Zentralbibliothek Zürich alle Schweizer Drehbücher, derer sie habhaft werden kann. Seite für Seite gehen Dialoge und Handlungsanweisungen in verwandelter Form in die Archive der Bibliothek ein. «Manche Drehbücher sind aufgrund der damals angewandten Reproduktionstechniken in einem sehr schlechten Zustand, manchmal ist der Text kaum noch lesbar. Deshalb haben wir uns für die Archivierung auf Mikrofilmnegativen entschlossen». 2010 ist die Bibliothek zum Scannen übergegangen, seit Januar des laufenden Jahres jedoch werden die gescannten Dokumente zugleich auf Mikrofilm übertragen – eine Speichermethode, die bei richtiger Handhabung und Lagerung den Erhalt auf mehrere Jahrhunderte hinaus sichert.

Ein ungeliebtes Métier

Ein Blick auf die Geschichte des Drehbuchs erklärt zum Teil die Mängel in der Archivierung. Die ersten Drehbuchschreiber kamen aus sehr unterschiedlichen Bereichen, oft waren sie Journalisten oder Schriftsteller, die sich am Kino versuchten, einer siebten Kunst, vor allem aber einer Industrie. Befanden sie sich erst einmal in den Mühlen der Drehbuch­abteilungen der grossen Hollywood-Studios, so die Forscherin Jacqueline van Nypelseer in einem Artikel für die Zeitschrift Le Scénario,  «litten [die Drehbuchschreiber] unter ihrer Versklavung,  konnten jedoch dem Lockruf des Gelds nicht widerstehen», sie wurden nämlich äusserst gut dafür bezahlt. Sie hatten, so van Nypelseer weiter, die Vorgaben der Produzenten zu erfüllen, oft sogar in Teamarbeit, was das Geltendmachen von Rechtsansprüchen auf Autorschaft nicht gerade erleichterte. Und doch erlaubte es diese Methode, Drehbücher «von hoher technischer und künstlerischer Qualität in Rekordzeit herzustellen».

Andere Länder, andere Geschichte(n): In Frankreich, bemerkt die Forscherin, ist gerade die Politik der Autoren («politique des auteurs») für den absoluten Vorrang des Regisseurs verantwortlich zu machen, sie verbannte das Drehbuch in den Hintergrund der Kinogeschichte. In der Schweiz wiederum wird der Film weniger durch eine Geringschätzung des Drehbuchs geprägt als durch die Strukturen der Branche, in der die Mehrheit der Filme­macher ihre Filme selbst schreibt. Dabei ergibt sich, ganz unabhängig davon, ob es sich um einen fertigen Film oder ein blosses Vorhaben handelt, das Bild eines Prosagedichts. Ein Treatment folgt der Erzählweise einer Novelle, und eine Abfolge von Dialogen ähnelt stark einem Theaterstück – literarischen Genres, die durchweg Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sind.

Um dem Drehbuch einen ähnlichen Rang zu verschaffen, trägt die Zentralbibliothek wann immer möglich sowohl die Endversion als auch die verschiedenen Vorstufen zusammen; alles eben, was auf die Autoren zurückgeht, von Spiel- wie von Dokumentarfilmen. «Es ist das gleiche Vorgehen wie bei der literarischen Forschung, wir wollen die Entwicklung von Drehbüchern zugänglich machen, das Studium des Übergangs von einer Version zur nächsten». Produktionsbezogene Informationen werden nicht archiviert. «Diese Angaben sind vertraulich», sagt Irene Genhart.

Verschiedene Formen der Zusammenarbeit

Aus diesen Gründen sind die Drehbücher im Allgemeinen unveröffentlicht. «Es handelt sich meist um Manuskripte oder Typoskripte», erklärt Irene Genhart, die seit 35 Jahren in der Bibliothek arbeitet. Manche von ihnen wurden auf Versteigerungen angeboten wie «Es geschah am helllichten Tag» von Hans Jacoby, Ladislao Vajda und Friedrich Dürrenmatt (der unter der Regie von Ladislao Vajda gedrehte Film kam 1958 in die Kinos). Mit 2290 Franken ist das Drehbuch das teuerste in der Sammlung. Der Rest lag in verstreuten Kartons bei Autoren, Produzenten oder deren Erben.

Bei der Einrichtung ihres Archivs profitierte die Bibliothek von einer Schenkung der Stadt Zürich, von Drehbüchern von Filmen, die vor der Gründung der Zürcher Filmstiftung gefördert wurden. Für jüngere Werke arbeitet die Bibliothek eng mit der Stiftung zusammen, die der Bibliothek zweimal jährlich alle eingegangenen Drehbücher überlässt. «Wir reden von hundert, vielleicht zweihundert Drehbüchern pro Jahr, oft handelt es sich aber bloss um verschiedene Fassungen». Die Cinémathèque suisse verfügt ebenfalls über reiche Archivbestände. «Bernie Meier, früher für die Dokumentationsstelle verantwortlich, die Zürcher Dépendance der Cinématheque suisse, hat mir von zahlreichen alten, aus Nachlässen stammenden Drehbüchern erzählt, die in Zürich und in der Archivstelle der Cinémathèque in Penthaz (VD) lagern». Um sie zugänglich zu machen, übernimmt die Zentralbibliothek für fünf Jahre das Einscannen und Kennzeichnen, danach gehen Originale und Mikrofilme zurück. «Ich weiss nicht, welche Institutionen zur Bewahrung des kulturellen Erbes zurzeit sonst so reibungslos zusammenarbeiten – und dabei den Röstigraben ignorieren», so Irene Genhart.

Und die «Welschen»?

Aufgabe der Zentralbibliothek Zürich ist es, alles zu archivieren, was mit dem Kanton zu tun hat, «aber wenn man berücksichtigt, wie viele Filme mit Zürcher Geld entstehen, macht das einen grossen Teil des Schweizer Kinos aus.» SRF wie auch das Migros Kulturprozent haben ihren Sitz in Zürich, fast 80 Prozent aller Schweizer Filme erhalten Geld vom Kanton. Nur die rein welschen Filme fehlen, erläutert Genhart. Mit einigen naheliegenden Ausnahmen. «Zum Beispiel kann man in unserem Archiv derzeit Drehbücher von Alain Tanner finden, einfach, weil wir alles, was aus der Cinémathèque kommt, auch nehmen». Nach aktuellem Stand sind 3800 Drehbücher bereits eingescannt, von denen 3000 per Katalog verfügbar und zum Studium freigegeben sind.

Hat die Zentralbibliothek vor, mit Cinéforom die gleiche Vereinbarung wie mit der Zürcher Filmstiftung zu treffen? Die Frage ist politischer – und natürlich auch finanzieller – Natur, weshalb sich Irene Genhart dazu nicht äussern möchte. Zum Geist der Entstehung würde es auf jeden Fall passen: dem Wunsch, ein möglichst vollständiges landesweites Archiv aufzubauen.

▶  Originaltext: Französisch

«Wie Drehbücher klingen»

Thomas Meyer und Markus Imhoof lesen Auszüge aus den Drehbüchern zu «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» (2018) und «Das Boot ist voll» (1981). Anlass an den Solothurner Filmtagen, Deutsch mit Simultanübersetzung auf Französisch.

Montag, 28. Januar 2019

16:00 – 17:00 | Kino im Uferbau

Moderation: Irene Genhart

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