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Traue keiner Statistik

Andreas Furler, Gründer und Betreiber des Filmportals cinefile.ch
21. Juni 2018

Copyright Dominique Meienberg

Im World Wide Web herrscht wie eh und je Goldgräberstimmung. Wer Algorithmen clever genug bündelt, kann die resultierenden Apps & Sites global vermarkten und selbst mit unausgegorenen, zweitklassigen Produkten Gewinne erzielen, für die das Wort erst­klassig eine milde Untertreibung ist. Das interessanteste Objekt der Begierde sind derzeit Filme und Musik. Die Digitalisierung hat diese Konsumgüter vollends entmaterialisiert und bringt sie via Web effizienter denn je zum Endverbraucher. Was daraus hervorgeht, nennen die IT-Ökonomen einen «disruptive change», die Revolutionierung überkommener Medien, der damit verbundenen Vertriebskanäle und Geschäftsmodelle über Nacht.


Im Meer der Mittelmässigkeit

In der Schweizer Filmbranche ist die Disruption seit sechs Jahren voll in Gang. Damals, 2011, begannen die US-Majors im Kinobereich den Wechsel vom analogen zum digitalen Film durchzusetzen, während im Heimkinosektor die ersten Streaming-Dienste den Sturmlauf auf das keine zehn Jahre alte Königsmedium Blu-ray-Disc (BD) lostraten. Kein Stein ist seither auf dem andern geblieben, die eilends entsorgten DVD-Sammlungen in Antiquariaten erzählen davon, selbst Cinephile mit gut bestückten BD-Regalen lassen ihre physischen Player verstauben und browsen stattdessen mit leuchtenden Augen durch das Meer der Mittelmässigkeit auf der Swisscom-Box. Die Begleitmusik klingt aus den Feuilletons, in denen die Kritiker bald Tod, bald Auferstehung des Kinos, der Blu-Ray, des klassischen Erzählfilms, der Serie verkünden…

Doch was geschieht wirklich in der Branche? Werfen wir einen Blick auf einen überschaubaren Markt wie die Schweiz mit seinen relativ eindeutigen Zahlen. Von 2011 bis Ende 2016 ist der Umsatz mit dem Download und der Vermietung von Filmen laut Statistik des Schweizer Videoverbands um rund 500% gewachsen, vom Ausgangspunkt her gesehen also um durchschnittlich 80% pro Jahr.

Im gleichen Zeitraum sank der Umsatz mit DVD- und Blu-ray-Verkäufen von 265 Mio. Franken auf 115, anders gesagt auf 43% des Ausgangsvolumens. Da also ein strahlender Sieger und neuer Mainstream-Dominator, dort ein Looser und sein Rückzug in die Nische für Sammler. Korrekt?

So auf alle Fälle werden diese Zahlen von der Branche aufbereitet und von Multiplikatoren wie Blick am Abend, 20 Minuten und zig Newsportalen kolportiert. Doch es sind Statistiken, und von denen heisst es bekanntlich, dass man keiner glauben soll, die man nicht selber gefälscht hat. Machen wir also den Versuch und verfünffachen wir etwa den Schweizer Streamingumsatz von 2011 (23 Mio.) auf 115 Mio im Jahr 2016. Rechnen wir zudem von 2016 noch weitere fünf Jahre linear in die Zukunft, so betragen die Schweizer Streaming-Umsätze im Jahr 2021 bereits 230 Mio. Franken und übertreffen die Kinoumsätze (bei Hochrechnung der letzten Fünf-Jahres-Entwicklung noch knapp 200 Mio. Franken) um gut 10%. Einverstanden?


Die Rechnung ohne Netflix gemacht

Hoffentlich nicht, denn diese scheinbar plausible Hochrechnung ist kreuzfalsch. Nicht berücksichtigt ist darin nämlich, dass der gesamte Schweizer Home-Cinema-Markt von 2011 bis 2016 um 36% geschrumpft ist, von 307 Mio Franken Umsatz auf 195 Mio. Der Zuwachs beim Streaming macht den Rückgang bei DVD/BR also (zumindest bis jetzt) bei weitem nicht wett. Zudem flacht die Zuwachsrate beim Streaming ab, wie das bei jedem neuen Marktprodukt geschieht: 2016 lag sie noch bei 10% und damit achtmal tiefer als die soeben linear hochgerechneten, surrealen 80% jährlich.

Doch auch diese Zahlen sind höchstens die halbe Wahrheit: Unterschlagen wird darin das Volumen des umsatzstärksten Anbieters, Netflix, der partout keine Umsätze kommuniziert und auch seine Abonnentenzahlen nicht aufschlüsselt nach Ländern. Als Flatrate-Anbieter erzielt Netflix nämlich gut kalkulierbare Umsätze (Aboeinnahmen pro User bzw. Land) mit höchst variablen Filmbuchungen. Für letztere zahlt Netflix den Rechteinhabern in der Regel Fixpreise, damit die Besitzer der lukrativsten Filme ihren prozentualen Anteil nicht ausrechnen und entsprechende Forderungen stellen. Aus dem gleichen Grund kommt Netflix an die besagten Topfilme übrigens in sehr vielen Ländern nicht heran und lebt notgedrungen primär von Serien. In der Branche schätzt man, dass Netflix in der Schweiz derzeit 40 Mio. Franken pro Jahr umsetzt, und dies ohne einen einzigen Mitarbeiter vor Ort. Doch was wissen wir wirklich über diesen hermetisch abgeriegelten Global Player, was über die Hochrechnungen in den Schaltzentralen von Apple, Microsoft, Amazon & Google, nachdem der Disney-Konzern 20th Century Fox gekauft und einen eigenen Streaming-Dienst angekündigt hat? Hinter den Kulissen werden gerade die globalen Allianzen von morgen geschmiedet. Wenn eines heute schon feststeht, dann ist es die nächste Disruption, das Marktgesetz des digitalen Zeitalters.

▶ Originaltext: Deutsch







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