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Editorial

Und jetzt die Fiktion

Nun da in Nyon Visions du Réel beginnt, wo sich die Crème des Dokumentarfilmschaffens versammelt, spricht alles von der Fiktion. Gilles Marchand hat im Lauf der Kampagne mehrmals wiederholt, sobald von Sparübungen die Rede war: der Fiktion solle der Löwenanteil der Investitionen des nationalen Fernsehens zukommen. Zumindest wurde klar gemacht, dass man ihr mehr Gewicht geben will.

Der Spielfilm ist aber in mancher Hinsicht der ungeliebte Bruder in der Schweizer Produktion. Er sieht sich, im Vergleich zum dynamischen und flexiblen Ökosystem des Dokumentarfilms mit dessen unkomplizierten Produktionsmethoden, ständig mit seinen Beschränkungen konfrontiert. Zu wenig Drehbuchautoren und diese zu wenig ausgebildet; ein gespanntes Verhältnis zwischen Regie und Produktion; zu wenig Mittel; zu wenig Schauspieler – die Liste der Klagen ist lang. Dennoch verbessert sich bei den Serien Jahr um Jahr die Qualität und ihre Reso- nanz bei der Kritik, mit jeder Produktion entfernen sie sich deutlicher von den theatralischen Sitcoms und nähern sich europäischen Standards.

Seit Jahren hat die RTS auf den Dokumentarfilm fokussiert, zumal dank dem unermüdlichen Engagement von Irène Challand; die SRG wiederum hat die Serien in den 2000er-Jahren eher vernachlässigt. Doch mit der neuen Absichtserklärung der Direktion und der kürzlich erfolgten Ausstrahlung von «Wilder», «Anomalia» oder «Quartier des Banques» beginnt die Fiktion an Respekt zu gewinnen.

Angesichts allgemeiner Finanzierungsschwierigkeiten ist es ermutigend, dass die SRG als einer der wichtigsten Unterstützer des Schweizer Films sein Engagement verstärken will. Bleibt abzuwarten, ob das in der Kampagne Versprochene eingelöst wird und auf wessen Kosten gespart werden soll. Schweizer Dokumentarfilme werden vom Publikum und den Programmgestaltern gleichermassen geschätzt, und man wird darüber wachen müssen, dass nicht ein neues Loch aufgerissen wird, um ein altes zu stopfen. Das Podiumgespräch, das Visions du Réel zusammen mit Cinébulletin durchführt, bietet eine schöne Gelegenheit, Gilles Marchand dazu Fragen zu stellen.

Der erste Jahrgang unter der neuen Leiterin Emilie Bujès bietet sich an für Diskussionen, denn es gibt hier viel über den Dokumentarfilm zu erfahren. Hier stechen jene hervor, die nicht nur mutig Themen anpacken, sondern dies mit originellen Formen tun, oft an der Grenze zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Das könnte auch eine Lektion sein für die Serien: Statt den Mythen des Landes könnten sie sich noch mehr der Gegenwart zuwenden, sich noch mehr vom wirklichen Leben inspirieren lassen. So wie das in den vier Fernsehfilmen der Reihe «Onde de choc» geschehen ist. Die Kommunikation zwischen den Gattungen ist keine Einbahnstrasse.

Pascaline Sordet

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