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Wenn sich Schauspieler selbst inszenieren

Kathrin Halter
11. Februar 2021

«Schoggiläbe», der zweite Zürcher-Tatort mit Anna Pieri Zürcher und Carol Schuler. ­Regie: Viviane ­Andereggen, Casting: Corinna Glaus.

E-Castings werden immer wichtiger, die Pandemie hat die Entwicklung noch beschleunigt. Doch was Casting-Directors und Produzenten schätzen, missfällt oft den Schauspielern.

Im Unterschied zum Live-Casting präsentieren sich Schauspielerinnen und Schauspieler beim E-Casting in Form eines Videos. Verlangt wird meistens eine vorgegebene Szene aus dem Drehbuch, hinzu kommt oft ein Showreel oder About-Me-­Video, in denen sich Schauspieler meist mit Ausschnitten aus Filmen präsentieren. Seit ein paar Jahren gehören E-Castings fest zum Besetzungsritual und gehen mittlerweile fast jedem Live-Casting voraus. Es gibt zahlreiche Empfehlungen für Schauspieler, zum Beispiel vom Schweizerischen Bühnenkünstlerverband; auch Focal hat immer wieder Seminare, etwa mit Corinna Glaus, angeboten (siehe Interview).

Schauspieler sehen E-Castings allerdings kritisch. Eine erfahrene Schauspielerin, die in vielen Schweizer Fernsehfilmen mitgespielt und schon viele E-Castings erlebt hat, sieht in der aktuellen Praxis eigentlich nur Nachteile. Ihren Namen mag sie nicht nennen, das lenke von der Sache ab. Die Pro-­Argumente kennt sie, etwa dass die Chance zur Teilnahme gestiegen sei (was sie nicht glaubt). Dass man sich so oft aufnehmen kann, bis das Resultat befriedigt, lässt sie auch nicht als Vorteil gelten, im Gegenteil: Gerade der Zwang, sich selbst zu bewerten, Optionen von sich ins Leere hinaus anzubieten, sei manchmal ein Alptraum. Denn während es beim Live-Casting mit der Regie, der Casterin und auch der Technik eine professionelle Arbeitsgemeinschaft gibt, würden Schauspieler beim E-Casting sich selbst überlassen. Nicht zuletzt gehe man an ein Live-Casting, um die Regie kennenzulernen und zu schauen, ob sich die Vorstellungen treffen. Diesen Aspekt vermisst sie sehr. 

Die Doppelrolle von Spiel und Regie fällt auch deshalb schwer, weil sich Selbstwahrnehmung und Aussensicht unterscheiden. Bezeichnenderweise sei die Regie bei Dreharbeiten ja meist dagegen, dass sich Schauspielerinnen die Szenen auf dem Monitor ansehen, weil es Befangenheit erzeuge. Auch das häufige Fehlen eines richtigen schauspielerischen Gegenübers (nicht nur während der Pandemie) verfremdet das Resultat: Natürlich frage man Kolleginnen und Kollegen um Mithilfe, doch oft mit schlechtem Gewissen. Und was den – immer unbezahlten – Aufwand betrifft: Während ein Live-Casting (das Lesen des Drehbuchs und das Auswendiglernen der einzuspielenden Szene vorausgesetzt) höchstens eine Stunde in Anspruch nimmt, dauert die Aufzeichnung beim E-Casting schnell einmal einen ganzen Tag. Produziert wird oft unter Zeitdruck. 

Insgesamt wünscht sich die befragte Schauspielerin von Regie und Casting mehr Wertschätzung und Initiative: Vielleicht mit Hilfe von Zoom-Meetings, in denen die Isolation der Schauspielenden aufgebrochen wird und Regie und Spielpartnerinnen und -partner zugeschaltet werden. 

 

Grosse Konkurrenz beim Werbefilm

Diese Einwände kann Matthias Hunger­bühler («Der Kreis», «Private Banking», Fernsehproduktionen) gut nachvollziehen. Vorteile beim E-Casting sieht der Schauspieler in der Ortsunabhängigkeit und einer gewissen zeitlichen Flexibilität, die es ihm erlauben, dann zu arbeiten, wenn er gerade Zeit hat, obwohl die Deadline meist eng sei. Und natürlich sei es aus ökologischen Gründen sinnvoll, wenn weniger geflogen wird. Kritisch hingegen bewertet Hungerbühler das Verhältnis zwischen Arbeitsaufwand und Ertrag, wenn er etwa daran denke, wie selten E-Castings tatsächlich zu Aufträgen geführt haben. Gerade bei Werbeproduktionen will er deshalb inzwischen wissen, wie viele Leute angefragt werden; bei 50 bis 100 Mitbewerbern lohne sich der Aufwand einfach nicht. Wie die Berufskollegin findet auch er es wenig sinnvoll, die Regie-Verantwortung einfach den Schauspielern zu überlassen, da Regisseurinnen und Regisseure meist eine eigene, klare Vorstellung von der Umsetzung des Drehbuchs haben. Und auch er vermisst das unmittelbare Feedback, das beim Live-Casting dazugehört. 

Ferhat Türkoglu ist Schauspieler und Assistent an der Zürcher Hochschule der Künste, wo er (voraussichtlich) im Herbstsemester ein Modul zum Thema «Schauspieler*in in den Medien» unterrichten wird. Die Arbeitswelt der Schauspielerinnen und Schauspieler habe sich in den letzten Jahren radikal verändert, da Intendantinnen und Intendanten oder Casting-Directors vermehrt in den sozialen Medien unterwegs sind, um Ausschau nach Talenten zu halten oder im digitalen Raum Besetzungsentscheidungen zu fällen. 

E-Castings bewertet Ferhat Türkoglu vor allem als «bequem» für  Entscheidungsträger; er kritisiert die Anonymität, Beliebigkeit und die Konsumhaltung beim schnellen Aussortieren von E-Castings. Wobei es natürlich einen grossen Unterschied ausmacht, ob eine Schauspiel-Plattform ein E-Casting offen ausschreibt (mit entsprechend vielen Bewerbungen) oder Casting-­Directors eine kleine Vorauswahl treffen. Denn die Konkurrenz im deutschsprachigen Raum ist riesig, so sind laut Ferhat Türkoglu alleine in Deutschland rund 22ʼ000 SchauspielerInnen sowie 106 Casting-Directors registriert. Was er sich wünscht, ist mehr Wertschätzung, Sorgfalt und Respekt für die Arbeit von Schauspielerinnen und Schauspielern, die für E-Castings viel und fast immer unbezahlte Arbeit investieren. 

 

Höhere Besetzungsquote in der Schweiz

Und wie beurteilt dies der Produzent Ivan Madeo (Contrast Film)? Dass die Konkurrenz für Schweizer Schauspieler allein wegen elektronischer Casting-Runden deutlich grösser geworden ist, glaubt er nicht. Hingegen beginne heute der Auswahlprozess früher. Habe man als Produzent früher direkt zu einem Live-Casting eingeladen, bitte man heute eher darum, den Text zuerst mal in einem Video vorzusprechen. 

Konkurrenz sei in diesem Beruf jedoch normal: «Wenn man mit dem Aufwand vergleicht, den englischsprachige Schauspieler betreiben müssen, um eine Rolle zu erhalten, ist die Schweiz in einer privilegierten Situation. Der Konkurrenzkampf ist dort viel härter. Und die Besetzungsquote ist bei uns ungleich höher als in Deutschland, Frankreich, Italien oder England.» Zudem gehöre Selbstinszenierung ganz natürlich zum Schauspielberuf, in der Social-Media-Ära sowieso. Ivan Madeo glaubt, dass E-Castings auch nach der Pandemie wichtig bleiben, nur schon wegen der wegfallenden Reise- und Unterkunftskosten. Covid-19 habe da nur eine Entwicklung beschleunigt, die sowieso stattgefunden hätte. Und was sagt der Produzent zur Kritik von Schauspielerinnen und Schauspielern, dass damit Arbeit auf sie abgewälzt wird? Natürlich sei es problematisch, wenn zum Beispiel Abgabefristen von E-Castings zu knapp seien. Madeo glaubt aber auch, dass Schauspieler oft einen zu grossen technischen Aufwand betreiben, schliesslich gehe es primär um das nuancierte Spiel: «Ich möchte vor allem sehen, was mimisch geschieht – da brauche ich keinen perfekt ausgeleuchteten Bildhintergrund.» 

 

▶  Originaltext: Deutsch

 

 

Corinna Glaus über E-Casting

Kathrin Halter
11 Februar 2021

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