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Wenn die Musik aufhörte, suchte man sich einen Stuhl


01. Oktober 2015

Michael Sennhauser, Cinébulletin-Redaktor von 1993 bis 1996 sowie von 1999 bis 2001, erinnert sich an die Professio­­nali­sierung der Filmbranche, sein berufliches Selbstverständnis sowie ein Gespenst im Hinterkopf.
 

Von Michael Sennhauser
 

Es musste schnell gehen, damals 1993. Yvonne Lenzlinger, Direktorin des Schweizerischen Filmzentrums in Zürich, war die designierte neue Chefin der Sektion Film im BAK. Und kurz vor ihrem letzten Arbeitstag in Zürich hatte ihr die schweizerische Medienpolitik ihren eben erst eingestellten Cinébulletin-Redaktor Bruno Loher abgeworben.
Die SRG SSR gründete damals den Fernsehsender S Plus, den Vorläufer von Schweiz 4, aus dem dann schliesslich die sprachregionalen zweiten Sender entstehen sollten. Und Bruno Loher wurde von den Projektleitern als Redaktor für die Spielfilmauswahl geholt – nicht zuletzt wegen seiner guten Kontakte zu den damals relevanten Filmhändlern. 
Nur ein Jahr früher hatte ich mich gleichzeitig mit Loher als Cinébulletin-Redaktor beworben, als Martin Girod als Ko-Leiter zum Zürcher Filmpodium wechselte. Nun war Yvonne Lenzlinger froh, mich kurzfristig als Ersatzspieler einwechseln zu können.
Ich übernahm den Job mitten im Umbruch der Filmbranche. In der Westschweiz war ein neues Filmfördermodell in Entwicklung, mit einer sogenannten automatischen Komponente nach französischem Vorbild. Vor allem der Deutschschweizer Autorenfilm beäugte die Pläne misstrauisch. 
Die neue Filmchefin Yvonne Lenzlinger versuchte den basisdemokratischen Ansatz und berief die Branche zu den «Assisen des Schweizer Films» ins Grand Hotel in Locarno. Der Mann, der diese Assisen-Gespräche im Auftrag von Lenzlinger moderierte und bündelte, war Marc Wehrlin, ein knappes Jahr später ihr Nachfolger im Amt. Direktor des Bundesamtes für Kultur war ab 1994 (bis 2005) David Streiff, der einstige Direktor des Filmfestivals von Locarno.

Permanente Reise nach Rom

Als junger Filmjournalist und frischgebackener Cinébulletin-Redaktor bekam ich bald den Eindruck, ein Teil der Schweizer Filmbranche funktioniere als permanente Reise nach Rom: Wer nicht als Handwerker oder Autorin direkt in die Filmproduktion involviert war, funktionierte als Funktionär im Prozess der stetigen Professionalisierung der Branche. Wenn die Musik aufhörte, suchte man sich einen Stuhl. Und die Stühle wurden höher, je mehr sich das Spiel zwischen Kultur und Politik professionalisierte.
Dabei waren die Rollen fliessend und in Übergangszeiten auch nicht immer ganz trennscharf. Mein Vorvorgänger Martin Girod hatte mir geraten, die Westschweizer Kollegin Françoise Deriaz nach Möglichkeit in die Redaktion einzubinden. Niemand kenne sich besser aus im französischsprachigen Teil der Branche. Das stimmte und stimmt bis heute – so sehr, dass die vielseitigen Fähigkeiten der Kollegin eben nicht nur journalistisch eingesetzt wurden, sondern auch entwicklungspolitisch. Sie gehörte zum Kreis um den Westschweizer Produzenten Robert Boner, welcher das Projekt einer «Financière du cinéma» ausarbeitete – eben jene Reformen, welche unter anderem mit einer automatischen Förderung die Geldvergabe des Bundes revolutionieren wollte.
So hat es dann nicht einmal mich Jungspund verwundert, als der damalige Präsident des Stiftungsrates des Filmzentrums, ein angesehener Autorenfilmer, meinen Wunsch nach Westschweizer Verstärkung zunächst eher misstrauisch kommentierte: Er wolle sich doch nicht «den Financière-Wolf ins Haus holen». Dann hatte er aber doch die Grösse, der ausgesprochen kompetenten und bestens vernetzten Kollegin die Unterscheidung zwischen journalistischer und kulturpolitischer Auftrags-Arbeit zuzutrauen. Ich bekam meine Verstärkung und das CB einen zeitgemässen Professionalisierungsschub.

Ein neuer Umgangston

Ich selber verstand mich als diplomatischer Berichterstatter im Dienste der Branchenkohärenz. Die Schweiz ist eine Willensnation, die notorisch uneinige Filmbranche sollte dem nacheifern. Fand ich. Zwei Jahre lang besuchte ich nicht nur jeden noch so peripheren Anlass, sondern vor allem auch möglichst alle Generalversammlungen aller Trägerschaftsverbände. Das war manchmal zwar furchtbar langweilig – solange die Traktandenliste abgehandelt wurde – dann aber auch wieder spannend, wenn die Leute zu erzählen begannen. Denn irgendwie kannte jeder alle und alle jeden, und mein Job war es, so zu berichten, dass alle zufrieden waren und sich ernst genommen fühlten. Das war nicht immer einfach, nicht zuletzt genau darum, weil in dieser Zeit mit der kulturpolitischen und lobbymässigen Professionalisierung der Branche auch der Umgangston änderte – manchmal unerwartet und auch knallhart. 
So war es zu Beginn der neunziger Jahre ein paar umsichtigen Kinobetrei­bern zusammen mit ein paar der unabhängigeren Filmverleiher endlich gelungen, mit Procinema einen recht schlagkräftigen Dachverband aus den traditionell eher uneinigen Verleiher- und Kinobetreiberverbänden zu zimmern. Plötzlich gab es da eine auch aus wirtschaftspolitischer Sicht gewichtige Stimme in der Kulturpolitik, eine Organisation, die Lobbyarbeit in Bern finanzieren und leisten konnte.
Allerdings nicht für lange. Die kulturellen und die kommerziellen Interessen der einzelnen Verbandsmitglieder erwiesen sich als kaum harmonisierbar, und bald war Procinema nicht mehr ein starker Dachverband, sondern bloss noch eine gemeinsame Geschäftsstelle für administrative und statistische Zwecke.

Anfang und Ende von FILM

Dafür professionalisierte sich parallel dazu Cinésuisse, die kulturpolitische Lobby­organisation der Branche. Und Zug um Zug fast jeder und jede der Verbände und Organisationen, welche die Trägerschaft des Cinébulletin bildeten. Die über die Jahre für die Filmproduktion zusätzlich erkämpften Mittel flossen naturgemäss auch in diese Erhaltungs- und Erweiterungsmaschinerie. Zur Reise nach Rom bläst heute nicht mehr die Dorfkapelle, da spielen Studiomusiker. Klar, dass sich auch das Ciné-Bulletin immer weiter professionalisieren musste, und dies ab Ende der 90er Jahre mitten im allgemeinen Niedergang der klassischen Printmedien. 
Und wenn man sagt, niemand könne zweimal in den gleichen Fluss steigen: Das Cinébulletin bewies immer wieder das Gegenteil. Pierre Lachat, sein erster Redaktor von 1975, war mein Nachfolger, als ich 1995 zur Sonntags Zeitung wechselte. 
Und ich wurde indirekt dann wieder sein Nachfolger, als die Landeskirchen ihren schrittweisen Rückzug aus der Filmpublizistik beschlossen und man versuchte, die altehrwürdige Filmzeitschrift Zoom und das Cinébulletin über eine weitere Stiftung zu einem tragfähigen Gebilde zu formen. Die Monatszeitschrift FILM löste Zoom ab und gleichzeitig baute Françoise Deriaz das Westschweizer Pendant unter dem gleichen Dach auf. Und wieder produzierten wir gemeinsam das Cinébulletin als – damals ein Modewort par Excellence – Synergieprodukt.
FILM erwies sich ohne die Kirchen als nicht finanzierbar, das Cinébulletin dagegen konnte mit einer weiteren Auffangkonstruktion gerettet werden (wie Françoise Deriaz im letzten Heft darlegte). 

Journalisten sind keine Anwälte

Für mich markierte das Ende von FILM auch das Ende einer rund zehnjährigen Karriere als Printjournalist. Mittlerweile bin ich seit mehr als zehn weiteren Jahren als Filmredaktor bei Radio SRF 2 Kultur und zehre nach wie vor von den Erfahrungen meiner ersten zehn Jahre im Print und im Branchengewühl. Und immer noch staune ich über diesen Mikrokosmos, die hart umkämpften, oft verwünschten und doch und oft erfreulicherweise immer wieder neu aufblühenden Biotope. 
Journalisten sollten sich grundsätzlich nicht zu Anwälten machen. Und die schizophrene Situation, als Redaktor einer Branchenzeitschrift einer (wenn auch disparaten) Interessengemeinschaft gedient zu haben, schwebt daher als aufmerksames Gespenst noch immer in meinem Hinterkopf. Und hebt den Mahnfinger, wenn mich meine Liebe zum Film und zum Kino und seinen kreativen und zudienenden Kräften wieder mal hinreisst, zu vorschneller Begeisterung oder Entrüstung.
Ich möchte das alles nicht missen. Und wer weiss, wann die Musik wieder aussetzt.

 

Berichtigung zu «40 Jahre CB» im September­heft: Françoise Deriaz war von 1994 bis 1996 Westschweizer Redaktorin und erst anschliessend und bis 2011 Chefredaktorin von Cinébulletin.

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