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Was machen wir denn jetzt ?


07. Januar 2016

Was machen wir denn jetzt ?
Wenn ich Freunde und Bekannte besuche, entdecke ich in deren Wohnung oft das gleiche Bild, das auch bei mir hängt, in meiner Küche, in der ich mich oft aufhalte: ein Fotoporträt von Peter, er lacht.

Manchmal rede ich in Gedanken mit ihm und manchmal kommen mir Satzfetzen über die Lippen – ich sage ihm, dass er mir fehlt, oder dass ich es gar nicht zum Lachen finde... oder ich stelle Fragen.

«Was machen wir denn jetzt? Ja, was machen wir denn jetzt?» Diese Frage stammt aus Peters Liechtis Spital-Tagebuch.
Im Oktober 2013, ich steckte damals mitten in der Arbeit an einem Filmschnitt, wurde ich von Peter angefragt, ob ich für sein Projekt «Dedications» die Supervision in Montage übernähme. Das Script zum Film sandte er mir im Anhang einer Email. Es war spät in der Nacht, als ich sie öffnete. Ich wollte das Dossier am nächsten Tag eingehend studieren und vor dem Schlafen nur noch einen schnellen Blick reinwerfen.

Nach den ersten paar Sätzen war ich gefangen im Tagebuch. Ich konnte nicht mehr aufhören zu lesen. Die Schonungslosigkeit, die Traurigkeit und Melancholie der Texte und ja, auch der darin aufflackernde Humor hatten mich sofort in ihren Bann gezogen.

Im filmischen Essay «Dedications» sollten diese schriftlichen Beobachtungen und Reflexionen, die Peter Liechti während seiner häufigen Aufenthalte und nach etlichen Operationen im Spital verfasst hatte, die sprachliche Ebene, den Erzähltext bilden: 

«...in ungeschönter Klarheit im Hier und Jetzt verankert, in einer etappenartigen Krankheitsgeschichte, die mit allen Hochs und Tiefs des Spitalalltags ihren Lauf nimmt. Dieser wird aber immer wieder vergessen und überflutet von einem unbändigen Erinnerungsstrom, Momenten wildesten Lebens und selbstvergessener Melancholie»*.

«Dedications» sollte eine Widmung an das Leben werden. Doch das Leben spielte nicht mehr mit. Peter konnte das Projekt nicht vollenden, an dem er, seinen Schmerzen trotzend und unter Aufbietung seiner allerletzten Kräfte, bis fast zuletzt gearbeitet hatte. Zwei Wochen vor seinem Tod wollte er mir den Rohschnitt zeigen, den er mit der Editorin Annette Brütsch begonnen hatte. Doch auch dazu kam es nicht mehr.

«Eigentlich wollte ich nur wissen, wie das Wetter wird – und ich erfahre, dass morgen die Welt untergeht...»*

Die Texte des Spital-Tagebuchs hat Peter drei Monate vor seinem Tod in seinem Appenzeller Atelier selber integral vorgelesen. Diese Lesung wurde von Kameramann Peter Guyer aufgezeichnet. Gedacht als erzählerische Orientierung, sind diese Aufnahmen Teil des gesamten Rohmaterials von «Dedications».
Zum Film-Fundus gehören auch umfangreiche Rechercheaufnahmen und Reise-Erinnerungen aus Peter Liechtis über die Jahre angereichertem Archiv. So drehte er in Belgien unter anderem im Naturkunde- und im Psychiatriemuseum. In Namibia hatte er einst musikalische Szenen gesammelt, instrumentale Darbietungen afrikanischer und westlicher Rhythmen, Gesänge, Tänze... Im Sudan war er mit seiner Kamera in einen oft wortlosen Dialog mit den stoischen, von Elend und Bürgerkrieg gezeichneten Dorfbewohnern getreten. Selten haben mich Blicke eindringlicher getroffen als diese, direkt gerichtet in Peters Kameraauge. Der Dinka-Häuptling mass der Kamera magische Eigenschaften bei und wünschte, Peter möge die Bilder des Desasters in seiner eigenen Heimat zeigen. Diesem Wunsch wollte er in «Dedications» entsprechen.

Die dritte Bildebene des geplanten Films besteht aus persönlichen, verstörend schönen Super 8-Expressionen in Schwarz-weiss, gedreht auf Streifzügen durch die Ostschweiz, der Region, aus der Peter Liechti stammte und in die er sich immer wieder gerne zurückzog.

Die Aufnahmen der vierten Ebene wurden alle nachts im Spital gedreht. Es sind karge, seltsam beengende Impressionen.

Als «fliessenden Bild- und Klangrausch, als ein Vorbeiziehenlassen der wichtigsten künstlerischen wie persönlichen Eindrücke der vergangenen Jahre»*, so malte sich Peter Liechti das vollendete Werk aus.

Am 4. April 2014 ist er gestorben. Er hatte einen Rohschnitt von einer Viertelstunde.

«Was machen wir denn jetzt? Ja, was machen wir denn jetzt?»

Es war bald klar, dass «Dedications», in Peters Sinne, nicht einfach von jemand anderem hätte weitergeführt werden können. Die Montage steckte in den Anfängen. Das ganze Projekt war zutiefst persönlich angelegt, hing ab von der künstlerischen Ausdruckskraft des Autors und folgte seiner inneren Vorstellungs- und Erinnerungswelt. Der Autor war aber nicht mehr da.
Es ist in erster Linie der Entschlossenheit von Peter Liechtis Frau, Jolanda Gsponer, zu verdanken, dass wir heute einen Einblick nehmen können in das umfangreiche Material. Ohne das Werk zu manipulieren, mit grösstem Respekt vor der künstlerischen Authentizität, hat sie nun Bilder, Texte und Töne einem Publikum zugänglich gemacht.

Nach eingehenden Gesprächen mit den engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, nach Suchen, Verwerfen und Abwägen nahm das Konzept einer Veröffentlichung schließlich Form an und wurde von Jolanda Gsponer in enger Zusammenarbeit mit Annette Brütsch und unter Mitwirkung von Freunden, Freundinnen und ehemaligen Teammitgliedern in drei Teilen umgesetzt:

Das Buch enthält das vollständige Spital-Tagebuch und einige weitere Texte aus Peter Liechtis Schriften, sowie eine Vielzahl von ausgewählten Standbildern aus dem Rohmaterial von «Dedications» (Verlag Scheidegger & Spiess). Beigelegt ist der begonnene Rohschnitt in limitierter Auflage.

Die gefilmte Lesung zeigt Peter selbst, der in seinem Atelier das ungekürzte Spitaltagebuch vorliest. Sie wird rhythmisiert durch die schwarz-weissen Super 8-Aufnahmen und einige wenige diskrete Eindrücke seiner Aufenthalte im Spital.

Die Installation wurde von dem mit Peter Liechti befreundeten Künstler Yves Netzhammer konzipiert. Auf drei semitransparenten Leinwänden wird eine umfangreiche Auswahl unbearbeiteter Film-Einstellungen parallel präsentiert. Damit wird Einblick in das reichhaltige Rohmaterial gegeben, ohne die Autorschaft zu manipulieren. Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden durch die wechselnde Simultanität der Bilder selber Bezüge herstellen, den Film gewissermassen selber «montieren».

Peter war stark. Er verfolgte seine Interessen und Pläne leidenschaftlich und unbeirrbar, verfügte nebst seiner künstlerischen Sensibilität und Verletzlichkeit über ungebändigte Kraft, Neugierde und Lebenswille. Zutiefst in meinem Innern konnte ich nicht wirklich glauben, dass der Tod stärker sein würde als er.

«Dedications» werden wir nie vollendet, in der Handschrift des Autors, zu sehen bekommen. Aber wir erhalten nun die Möglichkeit, mit Hilfe unserer eigenen Vorstellungskraft zu erahnen, wie der filmische Essay hätte werden können. 

Der Begriff Dedication lässt sich auch mit Hingabe übersetzen. Mit Hingabe und Beharrlichkeit hat uns Jolanda Gsponer nun einen Zugang zu den visuellen Fundstücken aus Peter Liechtis persönlichem Filmarchiv verschafft. Wir sind aufgerufen, damit den Gedankenstrom unserer eigenen Phantasie zu speisen.

«...Das einzig Schöne im Zimmer ist der kleine orange Lampion, den sie mir gestern gebracht hat aus unserem Gärtchen... Kleines rotes Laternchen, ich möchte heim zu dir. ...» *
 

Tania Stöcklin, Dezember 2015

* Zitate aus dem Script und dem Spital-Tagebuch

 

 

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