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Von Bären und Menschen

Silvia Posavec
13. Januar 2023

Filmstill aus «Ours» von Morgane Frund / Morgane Frund © Solothurner Filmtage 2023

Die Schweizer Regisseurin Morgane Frund zeigt, wie der bewusste und zeitgemässe Umgang mit Archivmaterial aussehen kann.

Während eines Praktikums bei den 54. Solothurner Filmtagen entdeckte Morgane Frund die Abschlussarbeiten der Filmklasse der Hochschule der Künste Luzern (HSLU Design & Kunst). Es waren vor allem dokumentarische Kurzfilme, die sie nachhaltig berührten. Für die Lausannerin stand in diesem Moment fest: Da will ich auch hin. Erste spielerische Annäherungen an die Arbeit mit Bewegtbildern unternahm sie bereits als Heranwachsende – damals drehte sie mit Freundinnen Musikvideos und experimentierte mit Schnittprogrammen. Sie wusste früh, dass sie beruflich gerne mit Video und Film arbeiten wollte, doch hatte sie noch keine genaue Vorstellung davon, welche Richtung sie innerhalb der so vielfältigen Filmindustrie gehen sollte. Nach der Matur bewarb sich Frund für ein Filmstudium an der HEAD in Genf und wurde abgelehnt. Im Nachhinein meint sie jedoch, es sei für sie von Vorteil gewesen. Anstatt nach Genf zu ziehen, blieb sie in Lausanne und studierte Literatur- und Filmwissenschaften an der Universität.

Die tiefgehende Auseinandersetzung mit Sprache während des Studiums so wie auch die wissenschaftliche Filmanalyse ermöglichten Frund einen ganz anderen Zugang zum eigentlichen Filmhandwerk. An der HSLU angenommen, zeigte sich ihr analytischer Blick und das Interesse an diskursive Formen bereits in ihren ersten Filmübungen. In «La doyenne» begegnet Frund in einem Reitstall auf humorvolle Art einer Stute, die ebenfalls Morgane heisst. Der 12-minütige Dokumentarfilm untersucht den Raum aus verschiedenen Perspektiven und nimmt die visuelle Grundlage als Ausgangspunkt für eine essayistische Gedankenexpedition über den Stall und die Sinnhaftigkeit von Namensgebungen hinaus. Auch in «La poésie des temps modernes» zeigt sich Frunds sprachliche Sensibilität. In ihrem Videoessay setzt sie Ausschnitte aus Charlie Chaplin-Filmen einem eigenen Gedicht über die romantische Liebe entgegen.

 

Ein Gespräch auf Augenhöhe

Im Sommer 2022 meisterte Frund mit ihrer Abschlussarbeit eine unerwartete Herausforderung. In «Ours» lernen wir Urs, einen bärenbegeisterten Hobbyfilmer mittleren Alters kennen. Mit seinen zahlreichen Bändern wandte er sich an die Luzerner Hochschule in der Hoffnung, unter den Studierenden eine Person zu finden, die aus den Naturaufnahmen einen Dokumentarfilm macht. An dieser Stelle beginnt Frunds Reise in das Filmmaterial. Sie folgt dem interessierten Blick des Amateurfilmers in die Wildnis, zu Bären und Füchsen in die unberührte Natur. Doch beschränkte sich dessen Neugier nicht nur auf die Tierwelt, durch seine Kameralinse späht er ungeniert auf alles, was ihm reizvoll erscheint. Dieser Fund verändert das Wesen des gesamten Bildmaterials und führt beinahe zum Scheitern des Projekts.

Frunds Konzept und auch ihr Arbeitsprozess nehmen eine unerwartete Wendung. Zuerst will sie nur mit Archivmaterial auf die für sie sehr aufwühlenden Videos reagieren. Doch bald realisiert sie, dass sie selbst vor die Kamera treten muss, um ihrer Position und auch ihrer Verletzlichkeit eine Präsenz zu geben. Im Gespräch mit dem Urheber der Aufnahmen will sie erforschen, wieso ihre Wahrnehmung seiner Bilder so unterschiedlich von seiner eigenen ist. Vom eigenen Empfinden und der eigenen Wahrnehmung ausgehend, entwickelt sich ein Dialog zwischen zwei Generationen, zwei Geschlechtern und zwei Sichtweisen. Es ist eine Begegnung auf Augenhöhe, die gleichzeitig augenöffnend ist.

Anders als ein reiner Essayfilm sucht «Ours» den Austausch mit dem Publikum und schneidet mutig eine Grundsatzdiskussion an, die allzu oft einseitig geführt wird. Es ist Frunds Stimme, die andere dazu inspirieren kann, den Mitmenschen mit derselben Offenheit zu begegnen. Der «male gaze», der männliche Blickwinkel und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern sind grundsätzlich Themen, mit denen sich Frund auch in Zukunft beschäftigen will; momentan steht sie am Anfang der Recherche für ihren ersten langen Dokumentarfilm. An die 58. Solothurner Filmtage kehrt das junge Filmtalent vor und hinter den Kulissen zurück. Sie ist Teil der Auswahlkommission für die Sektion «Best Swiss Video Clip» – und «Ours» wird im Kurzfilmprogramm des Festivals gezeigt.

«Ours» in Solothurn:

20. Januar 14:45 Uhr (Kino Capitol),

22. Januar 17:00 Uhr (Kino Canva)

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