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«Mit diesem Projekt konnte ich mich schützen»

Adrien Kuenzy
31. Mai 2022

Olena Kyrychenko lebt in Kiew. © NikitaThévoz

Die junge ukrainische Filmemacherin Olena Kyrychenko zeigte bei Visions du Réel ihren Erstling und gab uns dort ihr allererstes Interview. Für sie ist das Filmen in Kriegszeiten eine Überlebenshilfe.

«Ich bin nur eine Frau mit einer Kamera». Olena Kyrychenko ist sehr bescheiden, aber auch sehr mutig. Mit gerade einmal 25 Jahren zeigte die ukrainische Filmemacherin bei Visions du Réel ihren ersten Kurzfilm «The Earth is Spinning», der noch vor dem Krieg, während der Pandemie 2021 entstand. Sie erzählt darin von ihrer Familie während des Lockdown in Nowowolynsk, einer kleinen Stadt an der polnischen Grenze. Unausweichlich naht der Tod des erkrankten Vaters heran. Die Regisseurin filmt ihren sorgenvollen Alltag, um einen Rest Überblick zu behalten und der Traurigkeit zu entfliehen. Auch jetzt, wo sie in Kiew wohnt, würde sie ihre Kamera um nichts auf der Welt aus der Hand geben. 

 

In «The Earth is Spinning» spürt man eine Dringlichkeit. Hat der Film Ihnen geholfen, weiterzukommen? 

Das Projekt hat mir vor allem geholfen, mich psychisch zu schützen, während ich gleichzeitig die Geschichte einer trauernden Mutter erzählte. Ich habe diesen Film während meines Studiums gedreht, und es war sehr schwer für mich, das alles abzubilden. Noch heute kommen starke Gefühle hoch, wenn ich ihn mir anschaue.

 

Sie erfassen Details, die Bewegung des Wassers, Alltagsgegenstände. Was bedeuten diese beiläufigen Augenblicke für Sie?

Ganz am Anfang entstand das aus dem Versuch heraus, meine Mutter zu beruhigen, indem ich sie möglichst nicht direkt filmte, meine Kamera woanders hin richtete oder einfach nur auf ihre Hände. Am Ende ergab sich daraus die Chance, die Wirklichkeit in einem anderen Licht zu zeigen, mich aus dem Alltag herauszunehmen und von aussen darauf zurückzuschauen. Es wurde mehr und mehr zu einer bewussten ästhetischen Entscheidung.

 

Nach der Fertigstellung ihres Films ist der Krieg ausgebrochen. Wie ist es Ihnen seither ergangen?

Zuerst war ich wie versteinert und lebte im Keller. In der zweiten Woche, als der Schock allmählich nachliess, half ich, wo ich konnte, indem ich mich freiwillig engagierte. Das hat bis heute Vorrang vor allem anderen. Parallel dazu habe ich weiter gefilmt, ohne mich zu stark unter Druck zu setzen, der Energieaufwand dafür ist enorm. Mich unter den heutigen Bedingungen ganz dem Filmen widmen, das geht nicht mehr, Körper und Geist machen da einfach nicht mit. Aber ich habe meine Kamera nicht weggelegt. In den letzten Tagen bin ich in der Schweiz aufgewacht, umgeben von Ruhe und schönen Dingen. Das ist nicht mehr meine Realität, ich zähle die Tage bis ich endlich wieder zu Hause sein kann.

 

Warum ist es für Sie gerade heute so wichtig, Ihr Leben zu filmen?

Es hält mich aufrecht. Das funktioniert ganz ähnlich wie bei meinem ersten Film. Es geht darum, über den eigenen Tellerrand zu blicken, dem Schmerz weniger ausgesetzt zu sein. Irgendwie dient mir die Kamera auch als Versteck. Wenn hinter einem Fenster etwas explodiert, erlebe ich es mit diesem Instrument in der Hand anders. So schaffe ich auf meine Weise Distanz. Ausserdem verwandeln sich die Leute, die ich filme, vor dem Objektiv, sie lachen, agieren freier. Es ist wichtig für mich, das im Auge zu behalten. Mir klarzumachen, dass ich ein Archiv für zukünftige Generationen schaffe. Ich will den Alltag zeigen, wie er ist, denn hinter den Schlachten, den Militäruniformen stecken Menschen, die einfach nur versuchen, so gut es geht zu überleben, jeden Tag aufs Neue. Ich finde, dass die Geschichte diese Ebene oft vergisst. Dann filme ich auch viele Bombenangriffe, meistens kommen sie nachts. Manchmal erwische ich nur jemanden, der wegrennt, ein Telefon, das vor sich hinklingelt, das geht mir jedes Mal durch Mark und Bein. In meinem Studentenwohnheim geht jeder anders damit um. Manche verdunkeln die Fenster, andere machen Party oder spielen Videospiele. Es gibt immer die, die weinen, und die anderen, die lachen.

 

Was werden Sie tun, wenn Sie nach Hause kommen?

Ich hatte die Idee, mir eine Presseakkreditierung zu beschaffen, um näher an die Front zu kommen. Aber das ist mittlerweile schwierig, es gibt zu viele solcher Anfragen. Ganz abgesehen davon, dass man dafür einen Armeehelm braucht, eine Schutzweste, und dass ich eine Heidenangst um mein Leben habe.  

 

Originaltext Französisch

 

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