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Artikel

Grünes Idyll, verseuchtes Land


04. April 2016

Drei Schweizer Filme im Internationalen Wettbewerb von Visions du Réel handeln von unserer Beziehung zur Erde: zum Land unserer Vorfahren, zum Ort, wo wir aufwachsen und zum Boden, der unser Überleben sichert.

Von Pascaline Sordet

«Man fragt mich oft, auch dieses Jahr, ob die Filmauswahl einem bestimmten Thema folgt…» Wäre dem so, hätte sich für 2016 die Flüchtlingskrise aufgedrängt. Es sind aber ganz andere Kriterien, die die Wahl bestimmen, sagt Festivaldirektor Luciano Barisone: die Alchemie zwischen den formalen Elementen und den Emotionen, die sie bewirken. «Mich interessiert die Ästhetik, die Notwendigkeit des Films, der Rahmen, der Rhythmus des Schnitts, die räumliche und zeitliche Dimension, die er schafft.» Viele der wie immer ganz verschiedenartigen Filme im diesjährigen Programm sind nicht auf ein Thema reduzierbar. Doch mehrere Werke befassen sich mit der Beziehung vom Menschen zur Erde. Das ist ein reiner Zufall, denn das Auswahlkomitee sucht nicht nach Gemeinsamkeiten: «Wir stellen die Filme zusammen, und sie ergeben ein Bild. Wir betrachten jeden Film für sich; der rote Faden wird erst im Nachhinein sichtbar.»

Mit den Händen im Boden wühlen und mit schmutzigen Fingernägeln eine Handvoll schwarzer Erde herausgraben: Der Langfilm «Wild Plants» von Nicolas Humbert und die beiden mittellangen Filme «Demi-vie à Fuku­shima» (siehe Bild) von Mark Olexa und Francesca Scalisi sowie «Chiens des champs» von Rachel Vulliens interessieren sich für das Leben auf dem Land. Allerdings sind die Werke in weit auseinanderliegenden Gegenden angesiedelt. Als Gegenpol zu unserer manchmal fast dramatisch dicht vernetzten postmodernen Welt erkunden die drei Filme den Bezug der Menschen zu einem Stück Land, das ihnen das Überleben ermöglicht, auf dem ihre Vorfahren aufwuchsen oder das ihnen als Spiel- und Lernfeld dient.

Die drei Filme behandeln also dasselbe Thema. Darüber hinaus teilen sie einen formalen und erzählerischen Anspruch, mit dem sie sich vom geölten Räderwerk der Fiktion wie von der trügerischen Klarheit der Aktualitäten abheben. Die Dramaturgie wird durch eine meditative Struktur ersetzt und verliert an Bedeutung. Die Narration lebt «in der subtilen Aufeinanderfolge der einzelnen Bilder», sagt Luciano Barisone.
 

Der letzte Mensch

Drei Mönche in Gelb singen vor einer Kulisse, die aus Tausenden von schwarzen Müllsäcken zu bestehen scheint. Eines der zahlreichen rätselhaften Bilder in «Demi-Vie à Fukushima», einem spektakulär visuellen Film. Im Fokus steht ein Mann, der allein auf dem radioaktiv verseuchten Gelände lebt. Er kümmert sich um die überlebenden Tiere, besucht die verlassene Stadt, so wie man eine Ruine besucht, die zwischen der echoenden Vergangenheit und einer einsamen Zukunft schwebt, die mindestens ein halbes Leben entfernt liegt.

Die Örtlichkeiten sind uns bekannt, und auch die Person. Hört man den Namen Fuku­shima, erwacht eine ganze Welt von Bildern: Das eingestürzte Atomkraftwerk; die Welle, die Autos und Häuser mitreisst; die Techniker in Schutzanzügen auf dem Katastrophengelände. Doch das ist es nicht, was Mark Olexa und Francesca Scalisi interessiert. Die beiden Abgänger der italienischen Dokumentarfilmschule ZeLIG in Bozen suchen das Fremde in diesen bekannten Bildern. «Dieser Grenzbereich zur Science-Fiction» fasziniert auch Luciano Barisone. Um die Distanz zu verstehen, die zwischen einer spezifisch kinematografischen Handschrift und der Reportage besteht, muss man sich nur paar Minuten eines YouTube-Filmchens anschauen. Es gibt zahllose Videos mit dem Japaner Naoto Matsumura. Er führt die Journalisten durch die Sperrzone und zeigt ihnen die zerstörten Gebäude. Doch es fehlt die Magie des Films. Der Festivaldirektor verweist erneut auf den Unterschied: «Was sind klare Bilder? Jene in der Werbung, im Fernsehen – Bilder ohne Ecken und Kanten. Mich interessieren die uneindeutigen Bilder.» 

Dokumentarfilme und Spielfilme sollten mit den gleichen Analyse-Tools betrachtet werden. Ist es denn wichtig, ob die Person real oder fiktiv ist? «Alle Filme des Cinéma du réel arbeiten mit realen Elementen – ob sie nun überraschend vor der Kamera erscheinen oder inszeniert sind. In jedem Fall entstehen die Bilder im Einklang von Filmendem und Gefilmtem.»

In «Demi-vie à Fukushima» hat das Engagement des Japaners für die Erde seiner Vorfahren einen wichtigen Stellenwert. Der Film prangert nicht die Nutzung von Kernenergie für zivile Zwecke an. Er weist nicht mit dem Mahnfinger auf die Zerstörungen. Er ruft uns flüsternd in Erinnerung – wie die beiden anderen Filme –, dass wir mit unserer Erde verbunden sind und dass wir uns ohne sie nicht wirklich verstehen können.

«Wir wollen keine anklagenden, sondern offene Filme: offen für Interpretationen, für Infragestellungen, für Zweifel. Die Gewissheiten überlassen wir gerne anderen Kommunikationsmitteln.» Dennoch sind die Bilder nicht sinnentleert. Vermitteln sie nicht doch, über die Fragen hinaus, die sie aufwerfen, im weitesten Sinn eine politische Botschaft? «Im weitesten Sinn ja, natürlich. Aber nicht um die Aufmerksamkeit auf die Atomenergie zu lenken. Es ist ein Film über die Absurdität des Lebens, über das Nebeneinander von Glück und Unglück.» Inmitten der blühenden Natur scheinen die Krankheiten nach der Katastrophe in die Ferne gerückt. Angesichts der Tiere, die keinen Sinn für unsere Zeitlichkeit haben, verblassen die Irrungen und Wirrungen der Menschen. Im Innern dieses Films scheint sich der Bauer selbst viel näher zu sein als die Techniker und Behördenvertreter, die sich am Rande der Todeszone bewegen.

Luciano Barisone und ich lesen den Film unterschiedlich, ich merke es ihm an. Knirscht er nicht schon leicht mit den Zähnen? Doch dann entspannt er sich und man ahnt ein Lächeln: «Das ist ja genau das Schöne am Film: Er bietet Raum für eigene Interpretationen. Für mich ist ‹Demi-vie à Fukushima› ein Science-Fiction-Dokumentarfilm.»
 

In Freiheit wachsen

Die wildwachsenden Pflanzen von «Wild Plants» sind sowohl Birnen, die in den verkrauteten Gärten in Detroit wachsen, als auch die jungen Menschen, die sich gegen die Welt protestierend in der Landwirtschaft engagieren. Sie alle möchten in Freiheit wachsen, ohne Stützpfahl. In seinem Film behandelt Nicolas Humbert die Natur wie eine Person. Sie ist fast noch präsenter als die Menschen, die sie bevölkern. Inmitten zersprungener Pflastersteine, auf Brachland im Zentrum öder Städte schaffen die Protagonisten in Pionierarbeit und im Rhythmus der Jahreszeiten eine neue Umgebung und neue Lebensformen.

«Ich mag den Regisseur Nicolas Humbert gut. Er geht mit viel Liebe und Leidenschaft auf ein Thema ein. Man spürt, wie er sich mit den Protagonisten identifiziert», sagt Luciano Barisone. Der 1958 geborene Filmemacher hat oft Musiker gefilmt und nähert sich auch den Personen in «Wild Plants», als ob sie Künstler wären. Man erfährt nicht viel über sie, Humbert konzentriert sich auf ihr Empfinden, nicht auf ihre Biografie. Die Details ihres Werdegangs interessieren ihn nicht, solche Informationen wären viel zu fragmentarisch.

Man könnte über jede Person in «Wild Plants» einen eigenen Film machen – sie alle haben ihre Eigenheiten und ihre milde Verrücktheit. Jeder Ort birgt zahlreiche Geheimnisse. Doch aus den verschiedenen Blickwinkeln und weil sich Humbert auf zwei Kontinenten bewegt, entsteht ein dichtes Geflecht, das über die Einzelschicksale hinausreicht. Luciano Barisone nennt es «ein ganzheitliches Lebenskonzept», bei dem – ob in Detroit oder Genf – die Menschen «das gleiche Territorium teilen.» Auch hier geht es nicht um die Gesundheit unseres Planeten oder um Umweltfragen, sondern um die Ethik des Zusammenlebens.

Wir finden in diesem Film, wie auch in den beiden anderen, eine Militanz für das Schöne. Eine wirkliche Freiheit für die Zuschauer, ein Vertrauen in ihre eigene Ästhetik, Sensibilität und Intelligenz. Die Protagonisten weisen uns den Weg, doch trotz aller Empathie benutzt der Filmemacher sie nicht als Mittel, um das Publikum zu kapern. Diese Menschen, die in ihrer Arbeit, in ihren Handlungen, in ihrer Präsenz einen Sinn gefunden haben, sind zu un­­stet, als dass man sich an sie halten könnte. Die Bilder, der Schnittrhythmus und die Gedankenanstösse lassen den Zuschauer Abstand nehmen vom hektischen Stadtleben und einer gewissen Dramaturgie, um einen anderen Rhythmus zu finden. Der Film beginnt gegen Ende des Winters und schildert den Lauf eines Jahres. Er könnte demnach unendlich oft neu beginnen. Wie der Kompost, den eine der Protagonistinnen erwähnt: Er ist lediglich eine Phase, Teil eines Zyklus, eine leere Zeit, die nicht weniger wichtig ist wie die Zeit der Fülle.
 

Der Ruf der Wildnis

Der Jura, der Wald, auf dem Bauernhof herumstreichende Katzen: Mit feinem Pinselstrich zeichnet Rachel Vuillens die Gestik der beiden Kinder zwischen Spiel und Arbeit auf und malt ein Porträt der unbeschwerten Kindheit. Sie zeigt deren durchdachte, doch belanglose Erfindungen, gibt einen Einblick in das Familienleben und in die Arbeit auf dem Hof, bleibt jedoch stets auf Augenhöhe mit den Protagonisten, an der Grenze zum Wald und zur Adoleszenz.

Gegen Ende des Films sitzen die beiden Kinder um ein Feuer und reden über ihre Bücher. Der grössere Junge liest gerade «Der Ruf der Wildnis» von Jack London. «Weshalb heisst das Buch so?», fragt der Kleinere. «Der Hund Buck lebt bei seinem Meister. Doch nachts hört er das Geheul und möchte zurück in die Wildnis. Und so verschwindet er schliesslich im Wald.» Ein Gespräch zwischen Kindern – im Einklang mit dem Film. Ein Pendeln zwischen dem Erlernen der Arbeit und der freien Zeit, in der die Jungs mit ihrer Fantasie – dem besten Werkzeug – sich selbst überlassen sind.

Rachel Vulliens machte ihr Diplom an der Ecole Cantonale d’Art in Lausanne und arbeitete als Assistentin an der Haute Ecole d’Art et Design in Genf an der Seite der Filmemacherin und bildenden Künstlerin Christelle Lheureux. Der Ansatz der beiden Frauen ist geprägt von einer grossen Nähe zum Thema und vom fragilen Gleichgewicht jener Filme, die keine Erklärungen bieten möchten. Ein Glaubensbekenntnis, das dem von Visions du Réel entspricht, wie dessen Name ja schon sagt. «Um etwas zu evozieren, braucht man keine Auskünfte.»

Nach einer Weile bezeichnet Luciano Barisone «Chiens des champs» als «einen der schönsten Filme über die Kindheit, die wir je gezeigt haben.» Fast nur mit Nahaufnahmen von Gesichtern und Händen, die schauen und tasten, baut der Film schrittweise und langsam eine stimmungsvolle Welt auf – eine Einführung in die Atmosphäre des Films statt in ein Thema. «Das ist eine Stärke all unserer Filme», sagt Luciano Barisone: «In der ersten Viertelstunde braucht es etwas, das uns auf eine Reise einlädt – ins Unbekannte. Es entsteht der Wunsch, sich und die Welt zu erkunden. Denn wenn zu Beginn des Films eine didaktische Einführung ins Thema erfolgt und in zehn Minuten alles klar ist: Weshalb soll man sich den Film überhaupt noch ganz ansehen?».

Man könnte den Eindruck haben, der Festivalleiter wiederhole sich. Verständlich, denn der etablierte Begriff Dokumentarfilm, der so wenig auf die Filme passt, die keine «Dokumentationen» sind, klebt wie Pech an den Werken. «Wenn es um solches Kino geht, pflegt man von ‹kreativen Dokumentarfilmen› zu sprechen. Weshalb spricht man nicht von ‹kreativen Spielfilmen›? Sind denn alle Spielfilme kreativ? Für mich ist der Dokumentarfilm viel mehr Kino als mancher denkfaule  Spielfilm. Man sollte das Wort Dokumentarfilm verbannen und wie ursprünglich einfach von Film sprechen.»

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