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Fussball und Film


04. April 2016

Am Anfang war der Fussball. Oder war es der Film? Sein Herz schlug nämlich für beides. Seit 2010 leitet Luciano Barisone Visions du Réel, er scheint sich also für Letzteres entschieden zu haben. Obwohl … Das Arbeiterviertel in Genua, ein von Bahngleisen, Wohnblöcken, Fabriken und Strassen dominierter Stadtteil, wo er einen Teil seines Lebens verbrachte, hatte nicht viel zu bieten, «nicht mal eine Bar», sagte er vor einigen Tagen in Nyon – in einer Bar, wohlverstanden. Beim Fussballspiel und im Film konnte er dem Alltag entfliehen. Luciano Barisone wollte sogar Fussballprofi werden und spielte bis er dreissig war in einer Mannschaft mit. Fast vierzig Jahre später konkurrenziert der Fussball immer noch mit seiner Leidenschaft für das Kino. 
Beim einen wie beim anderen geht es um das Individuelle und das Kollektive wie den Gemeinschaftssinn. «Im Kino lache und weine ich und halte vor Spannung den Atem an, zusammen mit allen anderen Zuschauern. Es herrscht eine Art spirituelle Magie, fast wie bei einem religiösen Zeremoniell: die Leinwand als Gottheit, das Publikum als die Gemeinde. Sich einen Film auf YouTube anzuschauen, ist etwas völlig anderes!» Ein Festival stärkt das Gemeinschaftsgefühl, es lässt ein neues Publikum entstehen, so vergänglich es auch sein möge. 

Ethnologischer Blick
Das geschah auch Anfang März bei einer Vorführung, die Visions du Réel für die Politiker der Region La Côte organisierte. «Wir zeigten ‹The Look of Silence› von Joshua Oppenheimer. Am Ende der Vorstellung blieben alle sprachlos sitzen.» Barisones braune Augen werden feucht, als er sich daran erinnert. «Solche Momente sind doch ein Beweis für die Kraft des Kinos.»  
Das Festival als Gemeinschaft. Der studierte Ethnologe Luciano Barisone vergleicht Visions du Réel mit einem Potlatch, dem Ritual der amerikanischen Indianer der Pazifikküste, bei dem die Reichtümer unter der Sippe verteilt werden. «So ist es auch bei uns: Wir arbeiten ein ganzes langes Jahr, um Reichtümer zusammenzubringen. Und dann verteilen wir sie am Festival der Gemeinschaft in einem Zug». Er unterstreicht seine Worte mit den Händen, seine Finger scheinen Fantasietiere zu formen.
Für den Genueser hat Visions du Réel auch etwas von einem Moloch, dem ammonitischen Gott mit Stierkopf, dem man im Feuer­opfer Menschen darbot. «Im Dezember und Januar ist unser Leben als Programmgestalter spannend und schrecklich zugleich. Von sieben Uhr morgens bis Mitternacht schauen wir Filme an (AdR.: 1400 waren es für 2016), sitzen pausenlos, essen ununterbrochen Schokolade – und nehmen zu. Ja, unsere Arbeit hat manchmal etwas Aufopferndes an sich.» 

Festlichkeiten sind ihm zuwider
Im Laufe des Gesprächs zeigt sich die ganze Breite von Luciano Barisones Liebe zum Cinéma du réel, das, wenn es sich auch der Mittel des Films bedient, anthropologischer Natur ist. Das Cinéma du réel verlangt nach der Fähigkeit, die nahe oder ferne Welt zu beobachten, wie dies natürlich auch für jede gute Spielfilmregie gilt. Dabei möchte der Festivalleiter eine Ghettoisierung des Dokumentarfilms vermeiden. «Godard sagte, ein Spielfilm sei ein Dokumentarfilm über die Schauspieler bei der Arbeit. Der Dokumentarfilm ist kein sekundäres Genre, auch wenn ihn das Fernsehen als Vermittlung von Information und didaktisch begreift. Informative Filme haben Propagandacharakter: Ein Film soll kein Weltbild aufdrängen, er muss Fragen stellen.» Luciano Barisone bedauert, dass etliche Filme, die zu Visions du Réel gelangt sind, von der überholten Vorstellung ausgehen, ein Dokumentarfilm müsse ein Informationsträger sein, bei dem die Form vernachlässigbar ist. «Man macht keine Filme über, sondern Filme mit. Es kommt auf die Form der Erzählung an, nicht nur aufs Thema.»
Unser Gespräch nähert sich dem Ende. Gilt das auch für sein Mandat? «Die Zeit wird kommen, eine Limite ist wichtig. Ich bin kein Mensch, der sich an eine Stelle klammert, auch wenn die Direktion von Visions du Réel ein prestigeträchtiger Posten ist. Und wenn ich dann gehe, will ich kein Abschiedszeremoniell. Festlichkeiten sind mir zuwider; ich feiere nicht mal meinen Geburtstag.»
Nun macht sich Luciano Barisone, in Turnschuhen, auf den Weg. Die Schokoladepolster müssen weg.

Pauline Rappaz

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