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Dörfer, Beizen, Scheidungskinder


04. April 2016

Gesellschaftliche Debatten initiieren und den Dokumentarfilm fördern: Was der «Migros-Kulturprozent
CH-Dokfilm-Wettbewerb» will und was er leistet.

 
Von Kathrin Halter

Lebenswelten, Freiheit, Mut, Raum, Zeit, Utopie. Das sind die Themen, die Filmschaffende inspirieren sollten. Und zwar nicht etwa zu einem philosophisch-filmischen Traktat, sondern zu Dokumentarfilmen, sich mit aktuellen und «für die Schweiz relevanten gesellschaftlichen Fragen» auseinandersetzen, so die Vorgabe des CH-Dokfilm-Wettbewerbs. 
Die gedankliche Verbindung aus Abstraktem und Anschaulichem, dem Zeitlosen und Konkreten funktioniert offensichtlich: Seit dem ersten Wettbewerb im Jahr 2010 sind vier Kinofilme entstanden, die in origineller Weise von der heutigen Schweiz handeln, zwei weitere sind im Entstehen begriffen. Simon Baumann erzählt die Dorf-, Familien- und Mentalitätsgeschichte eines Berner Kaffs, das auch ein Stück globalisierte Schweiz spiegelt («Zum Beispiel Suberg»). Eric Bergkraut geht der Frage nach, ob Beizen Orte der Freiheit sind («Service inbegriffe»). Thomas Isler setzt sich mit dem Initiativrecht und den Grenzen der direkten Demokratie auseinander («Die Demokratie ist los!»), Daniel Schweizer drehte einen Film über die Geschäftspraxis von Rohstoffmultis mit Sitz in der Schweiz («Trading Paradise», im Bild). Jacqueline Zünd will sichtbar machen, wie sich die Trennung der Eltern auf die Kinder auswirkt, wenn sie zwischen der Wohnung der Mutter und des Vaters pendeln; die Dreharbeiten zu «2,8 Tage» beginnen im Sommer. Sergio Da Costa schliesslich wird ein Genfer Zentrum für die Rehabilitierung von Wildvögeln beobachten, das zugleich ein Reintegrationszentrum für Sozialhilfeempfänger ist («Milan Noir»). 

«Kernkompetenz» des Schweizer Films
Allein diese Aufzählung erinnert daran, was Schweizer Filmemacher am besten können: Geschichten aus der Wirklichkeit erzählen. Schliesslich zählt der Dokumentarfilm zur «Kernkompetenz des Schweizer Films», wie das Migros-Kulturprozent auf seiner Website zu Recht formuliert. Braucht es da überhaupt noch Stimulierung und thematischen An­­stoss? Und weshalb der Bezug zur Schweiz?

Nadine Adler, Projektleiterin Film beim Migros-Kulturprozent, sagt es so: Die Vorgaben sollen Lust machen, sich am Wettbewerb zu beteiligen, ohne den Weg vorzuspuren oder gar einzuengen; zugleich möchte man gesellschaftliche Debatten initiieren. Die Auseinandersetzung mit der aktuellen Schweiz sei auch im Sinn von Gottlieb Duttweiler, dem Pionier und Migros-Gründer; sie prägt die Ausrichtung der gesamten Migros-Kulturförderung.
 
Nur einmal hat man bei einer Ausschreibung versuchsweise auf eine thematische Vorgabe verzichtet. Da es genau in jenem Jahr weniger Eingaben gab als sonst, ist man zur bisherigen Praxis zurückgekehrt. 

Unbürokratisches Arbeiten
Der Ablauf geht so: Eine Jury wählt aus den eingesandten Projekten drei aus; für die Ausarbeitung der Treatments bis zur Produktionsreife gibt es je 25ʼ000 Franken. Die Realisierung des Gewinnerprojekts wird dann mit 480ʼ000 Franken finanziert, davon stammen 400ʼ000 Franken vom Migros-Kulturprozent (respektive seit 2013 vom Förderfonds Engagment Migros), der Rest von der SRG. Das Projekt muss in diesem Budget-Rahmen realisiert werden, es dürfen keine zusätzlichen Gelder mehr etwa beim BAK beantragt werden. 
Dass man für die Fertigstellung eines Films nicht noch mehr Geld auftreiben muss, sei einzigartig in der Förderlandschaft, sagt Nadine Adler. Der Wettbewerb werde von Filmschaffenden jedenfalls sehr geschätzt, das Feedback sei sehr positiv; immerhin beträgt die Gewinnchance in der zweiten Runde rund 30 Prozent (die Anzahl Eingaben in der ersten Runde will man nicht kommentieren). 
Tatsächlich ermöglicht es diese Form der Finanzierung, einen Film verhältnismässig schnell und unbürokratisch zu realisieren. Gemessen an den Durchschnittskosten eines Schweizer Dokumentarfilms ist das ein solider Betrag; für aufwändigere Dreharbeiten, gerade im Ausland, ist die Unterstützung allerdings relativ niedrig bemessen, wie Daniel Schweizer zu spüren bekam (siehe folgende Seite). Nicht zuletzt deshalb sollen die Dreharbeiten gemäss neuen Richtlinien nun hauptsächlich in der Schweiz stattfinden. 
Konzipiert wurde der Wettbewerb von Hedy Graber (Leiterin Direktion Kultur und Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund) und Regula Wolf (Abteilungsleiterin Förderbeiträge beim Migros-Kulturprozent); auch die SRG war von Anfang an mit dabei und stellt jeweils jemanden in der Jury. 
Wie die anderen Fördermodelle im Filmbereich – die «Ideenförderung» für das Verfassen von Treatments, die «Postproduktionsförderung» sowie der Bereich «Filmkulturelles» – dient der CH-Dokfilm-Wettbewerb als Ergänzungsleistung zur öffentlichen Filmförderung. Generell will man Nachwuchskünstler und mit dem Dokumentar- und Kurzfilm Gattungen fördern, die vom Markt benachteiligt werden, wie es heisst.

Feiern mit Hazel Brugger
Die meisten Preisträgerfilme feierten Premiere an Festivals wie Visions du Réel oder am ZFF, zudem werden alle Filme auf SRF und RTS ausgestrahlt. Und damit der Wettbewerb öffentlich wahrgenommen wird – schliesslich wollen sich die Förderer auch selbst darstellen – wird der Wettbewerb zelebriert: Die Preisverleihung der ersten Runde findet jeweils am Filmfestival in Locarno statt; die Präsentation des Gewinnerfilms an den Solothurner Filmtagen. Zum Begleitprogramm zählt immer auch ein künstlerischer Gastauftritt zum neuen Wettbewerbsthema, dieses Jahr etwa der Slampoetin Hazel Brugger. Und dass für die nächste Ausgabe Ulrich Seidl als Jurypräsident engagiert wurde, kann der Reputation ebenfalls nicht schaden. 

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