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Der Härtetest

Kathrin Halter
01. November 2022

Das Kino Apollo in Lyss, Kt. Bern © Oliver Lang

Den Kinos geht es schlecht, wenn nicht gerade Festivals anstehen. Nun fordern diverse Stimmen mehr Kinoförderung, so appelliert der Studiofilm-Verband in einem Brief an die «Verantwortung» von Kantonen und Gemeinden. Eine Rundschau.

Es scheint paradox: Wer Festivals besucht, stösst auf volle Vorstellungen und überbuchte Anlässe. So kürzlich geschehen am Zurich Film Festival: Wer da zum Beispiel noch einen Platz am Eröffnungsabend erhalten wollte, brauchte entweder gute Beziehungen, zählte zu den Sponsoren oder zur Schweizer Film- und Lokal-Prominenz. Aber nicht nur die Cüpli-Anlässe, auch die regulären Vorstellungen am ZFF mit ihren vielen Erstlings- oder Zweitlingsfilmen liefen gut: Das Festival vermeldet mit 137’000 Eintritten im Jahr 2022 gar einen Besucherrekord – 15 Prozent mehr als im Vor-Pandemie-Jahr 2019. Ganz anders die Situation in den Wochen danach: Dieselben Filme, die am ZFF anlässlich festlicher «Gala-Premieren» für 29 Franken in gut gefüllten Sälen laufen, werden nach ihrer regulären Kinopremiere wenige Tage später – so ist zu befürchten – wieder weitgehend ignoriert.

Welche Schlussfolgerungen man aus Event-Begeisterung des grossen Publikums auch immer ziehen mag: Tatsache bleibt, dass die Kinos seit Monaten ein massives Problem mit dem Besucherschwund haben. Und seit April respektive Juli fallen nun auch die Ausfallentschädigungen weg, die die meisten Betriebe aufgrund der Covid-Verordnung erhalten haben. Spätestens im Winter wird sich zeigen, welche Kinos den Härtetest überleben werden. Mindestens zwei kleine Kinos (in Bülach und in Frauenfeld) sind schon eingegangen, weitere werden wohl folgen.

Die Kinokrise ist das wahrscheinlich meist diskutierte Thema in der Branche. Nur, wie schlimm ist es wirklich?

 

Weltweite Krise in allen Kultursparten

Dazu haben wir René Gerber gefragt, der als Generalsekretär von Pro Cinema über die aktuellen Statistiken verfügt: Wenn man das (bisherige) Jahr 2022 mit dem Durchschnitt von 2015-2019 vergleicht, ergibt sich ein Minus von 35-40 Prozent. Das sind 2,6 Millionen Zuschauer oder etwa 40-45 Millionen   Franken Bruttoeinnahmen weniger für die Branche, wobei der Verlust je zur Hälfte auf Kosten der Verleiher und der Kinos geht. Die Kinos verlieren zusätzlich noch Werbeeinnahmen und Kioskverkäufe.

Nun läuft es natürlich nicht für alle Filme gleich schlecht. Ein paar Blockbuster wie «Top Gun: Maverick» (574’170 Eintritte) oder «Spider-Man: No Way Home» (556’764 Eintritte) haben sich 2022 sehr gut verkauft. Und doch trifft die Krise auch den Mainstream. Auch dazu hat René Gerber Zahlen, obwohl die Unterscheidung zwischen Mainstream und Arthaus zuweilen schwierig sei: Im Mainstream-Bereich ist ein Umsatzrückgang von etwa 30-35 Prozent zu verzeichnen, im Arthaus-Bereich sind es, immer im Vergleich zum Jahr 2019, sogar fast 40 Prozent.

Vor allem zwei Informationen sind dazu wichtig: Erstens ist die Krise weltweit zu beobachten. Den Einbruch von 30-35 Prozent gibt es auch im europäischen Umfeld, in Indien oder in den USA. So ist kürzlich der zweitgrösste US-Kinobetreiber (Regal Cinemas) bankrott gegangen, vermutlich werden gegen 30’000 Leute ihre Arbeit verlieren. Zweitens leiden auch andere Kulturbranchen wie die (subventionierten) Bühnen, Kunstmuseen oder Konzertinstitutionen unter Besucherschwund seit ihrer Wiedereröffnung nach der Pandemie.

Dennoch darf man laut René Gerber trotzdem vorsichtig optimistisch bleiben. Er interpretiert den Einbruch auch immer noch als Spätfolge der Pandemie: «Viele Leute haben sich seither umorientiert, neue Gewohnheiten angenommen; das Kino geht oft vergessen.» Es werde wohl 2024, bis man vergleichbare Zahlen habe wie 2019 und zuvor. 2022 sei ein Übergangsjahr; erst 2023 werde sich zeigen, ob sich die Entwicklung wieder anpasst. Und er fügt noch an: «Kinos werden nicht sterben. Aber es wird nicht mehr so sein wie früher. Unsere schöne, diversifizierte Kinolandschaft wird vermutlich Löcher erhalten.»

 

Der Ruf nach Unterstützung

Auch an einem Panel am Locarno Filmfestival («Das Kino ist tot - Es lebe das Kino!») wurde das Thema diskutiert oder kurz danach im Filmpodium Zürich («Die Kino- und Verleihbranche im Umbruch»). An beiden Veranstaltungen wurde die Forderung nach Kinoförderung laut. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wer dafür überhaupt zuständig wäre. Ivo Kummer vom BAK verwies in Locarno auf die (Mit-)Verantwortung der Kantone und Gemeinden.

Doch weshalb ist das eigentlich so undenkbar, eine Unterstützung von BAK für die gebeutelten Betriebe? Wenn der Bund die Kinos strukturell unterstützen würde, ginge das automatisch auf Kosten der Herstellung, so Ivo Kummer bei einer Präzisierung am Telefon. Dass das fast niemand will, ist allen klar. Man müsse auch die Dimensionen sehen, schliesslich ginge es um 650 Leinwände oder 189 Kinounternehmen im ganzen Land – «also um unglaublich viel Geld, das wir aus unserem Budget gar nicht finanzieren könnten». Es sei auch nicht die primäre Aufgabe der Sektion Film, Strukturbeiträge zu sprechen, sondern Förderungen, sei es für Festivals, für die Kinos über Succès Cinema, Vielfaltsprämien für Verleiher oder über die neue Einzelprojektförderung, wo Kinos als kulturelle Orte gestärkt werden sollen. Dass dies nur «ein Tropfen auf den heissen Stein» sei, wisse er selber.

Deshalb empfiehlt der Filmchef der Branche, das Gespräch mit den Gemeinden und den Kulturbeauftragten der Kino-Standorte zu suchen. «Wir könnten sachkundig unterstützen, mehr nicht». Aber braucht es, Stichwort Flickenteppich, für neue, regionale Förderansätze nicht Vorgaben aus Bern? Ivo Kummer sagt, zwar liege der Film in der Verantwortung des Bundes, doch dies betreffe vor allem Herstellung und die Vielfalt im Kino-Angebot. Für die Infrastrukturen von Kultur seien in erster Linie Kantone und Gemeinden zuständig, die ihr Terrain bestens kennen, da sollte der Bund auch nichts vorschreiben.

 

Appelle und Briefe

Tatsächlich hat der Schweizer Studiofilmverband SSV Mitte September bereits einen Brief an die Konferenz der kantonalen Kulturbeauftragten (KBK) und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) geschickt. Kopien erhalten haben das BAK, die Städtekonferenz Kultur sowie alle relevanten Verbände. Der Brief konstatiert, dass «insbesondere die privatwirtschaftlich geführten Kinobetriebe im Arthouse-­Bereich künftig ohne zusätzliche Unterstützung ihr Programmangebot nicht aufrechterhalten können». Die Unterstützung durch die öffentliche Hand betrage durchschnittlich etwa drei Prozent des Umsatzes, zusammengesetzt aus ­Succès-Cinéma-Geldern, Beiträgen für die Angebotsvielfalt sowie der 2021 neu eingeführten Förderung für Spezialprogramme (…), die alle beim Bundesamt für Kultur (BAK) beantragt werden können. Diese Kino Subventionen – laut BAK in der Höhe von rund 2,5 Millionen Franken jährlich – reichen jedoch nicht aus; die Pandemie sei noch nicht vorbei und mit der Energiekrise bahne sich die nächste grosse Herausforderung an. Kinoförderung könne nicht allein Sache des Bundes sein. Deshalb appelliert der Verband an die «Verantwortung» der Kantone und Gemeinden, «ihren Teil an den Erhalt der schweizerischen Kinolandschaft und der damit verbundenen Angebotsvielfalt zu leisten».

In Zürich ist nun, auch als Reaktion auf einen weiteren Brief von vier Arthaus-Kinos an die Filmstiftung, ein erstes Gespräch zwischen Vertreter:innen des Kantons und der Stadt Zürich, der Zürcher Filmstiftung und einiger Kinobetreiber geplant.

Telefonische Anfragen bei den Behörden und der Förderinstitution offenbaren jedoch eine gewisse Ratlosigkeit. Alle sind sich bewusst, wie drängend das Problem ist, aber niemand fühlt sich wirklich – und schon gar nicht alleine – dafür zuständig. Um eine neue Kinoförderung  aufzugleisen, brauchte es zuerst einen politischen Prozess und gesetzliche Grundlagen, was beides länger dauern dürfte. Schliesslich müsste definiert werden, nach welchen Kriterien und in welcher Form Subventionen erfolgen könnten. Daniela Küttel (Neugass Kino AG) weist auch auf die unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Kinos hin, die berücksichtigt werden müssten: So gibt es Kinobetriebe, die Marktmieten bezahlen und solche, die eigene Liegenschaften besitzen. Kultur-Gelder von Kanton oder Stadt sind (wie die Subventionen für das Opernhaus oder das Schauspielhaus) zudem an Leistungsvereinbarungen gebunden.

Bei der Zürcher Filmstiftung war bei der Gründung eine Kinoförderung nicht vorgesehen, so Geschäftsführerin Julia Krättli; die Mittel fliessen wie bei der Filmförderung des Bundes primär in die Filmproduktion. Und wenn die Stiftung einen neuen Förderbereich für Kinos eröffnen und dafür zusätzlich alimentiert würde – woher käme dann das Geld?

Anruf bei Madeleine Herzog, Leiterin Fachstelle Kultur des Kantons Zürich. Im Kanton sei bei Strukturbeiträgen ein angemessener Beitrag der Städte (Zürich und Winterthur) und der Gemeinden Voraussetzung, dass der Kanton überhaupt prüfen könne, darauf einzutreten. Zudem sei der Anteil des Kantons bei allen Kulturbeiträgen subsidiär, also ergänzend zu den Standortbeiträgen der Städte und Gemeinden, und zudem deutlich tiefer als diese. Auch gebe es keinen Automatismus.

Murielle Perritaz, Co-Direktorin Kultur bei der Stadt Zürich, schreibt, die Stadt sei im Bereich Filmkultur seit längerem aktiv. Gewerbliche Kinos hingegen unterstütze die Stadt nur indirekt über Filmfestivals oder Filmvermittlungsprojekte, die in Kinos stattfinden. Vom (besagten) Treffen mit Zürcher Kinos verspricht man sich ein genaueres Bild davon, welche Betriebe betroffen seien, wie ihre finanzielle Situation aussehe und welche möglichen Lösungen die Kinos vorschlagen.

Natürlich kann eine neue Kinoförderung nicht der einzige Ansatz sein, um der Krise zu begegnen. Die Verantwortung liegt natürlich primär bei den Kinos selber, die als selbstständige Unternehmen mit eigenen Ideen auf die Strukturkrise reagieren müssen. Und es auch tun: Besonders Arthaus-Kinos überbieten sich geradezu mit Spezialanlässen, Vorpremieren, Diskussionen oder Themen-Abenden. Allerdings gibt es hier auch Grenzen: Kinos können nicht zu Dauer-Event-Maschinerien werden. So bleibt die Hoffnung auf eine Neudefinition der Kinobetriebe als kultureller Ort. Und auf die Rückkehr des Publikums.    

 

Originaltext Deutsch

 

Die Energiekrise trifft auch die Kinos

Laut René Gerber erhalten Kinobetreiber sehr unterschiedliche Stromrechnungen, je nachdem, woher sie den Strom im Freien Markt beziehen. Die Aufschläge seit der Energiekrise variieren bisher zwischen rund 80 Prozent und 1000 Prozent und sind teils existenzgefährdend. Die Kinobetreiber können auch nicht einfach die Anbieter wechseln, sie sind durch Verträge gebunden. Vom Bund wurde bisher keine Unterstützung versprochen. Falls eine Strom-Mangellage eintreten sollte, ist nicht auszuschliessen, dass auch Kinos schliessen müssten, weil der Bund die Grundversorgung im Energiebereich sicherstellen muss.

Hilfreich im Hinblick auf die Energiekrise ist die Austauschgruppe EDI (gegründet während der Corona-Krise), in der Vertreter:innen von BAK (unter der Leitung von Carine Bachmann), Kantonen, Städten und Kulturbranchen nach Lösungsansätzen auch in der Energiekrise suchen. (kah)

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