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Acht Ideen für (und von) Kinos

Pascaline Sordet
30. Juli 2018

Das Kino hat die Einführung des Fernsehens in den Fünfzigerjahren, der Videokassette in den Achtzigerjahren und der DVD in den Neunzigerjahren überlebt. Es bestehen also Chancen, dass das Kino auch das Internet überleben wird. Doch die Besucherzahlen sind schlecht (vor allem im Jahr 2018), und selbst wenn sie seit 20 Jahren mit 13 bis 16 Millionen Eintritten relativ stabil sind, so halten sie nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt. Um sich ihr Publikum zu sichern, müssen die Kinos nicht nur untereinander und mit den Strea­ming-Plattformen, sondern mit einer mächtigen und facettenreichen Unterhaltungsindustrie konkurrieren.

1 I Die Eintrittspreise mit Algo­rithmen ­­­­flexi­­bi­lisieren


In vielen Kinos gelten heute schon je nach Tageszeit unterschiedliche Preise: Bei Pathé kostet der Eintritt vormittags 13 Franken, während der Vollpreis bei 19.60 Franken liegt. Weshalb also nicht einen Schritt weitergehen und die Eintrittspreise aufgrund von Angebot und Nachfrage berechnen, wie bei Uber, wo der Fahrtpreis zu den Stosszeiten höher ist? Ein Algorithmus könnte verschiedene Parameter wie Produktionskosten des Films, Wetter, Filmkritiken oder Einspielergebnisse der vergangenen Woche mit einbeziehen, um den Eintrittspreis festzulegen. So könnten zu besuchsstarken Zeiten höhere Einkünfte erzielt und zu nachfrageschwächeren Zeiten mehr Besucher angelockt werden.

Es gibt in dieser Hinsicht einen historischen Präzedenzfall: Im Jahr 1915 erklärte D.W. ­Griffith in der New York Times, dass für grössere Produktionen 5 Dollar bezahlt werden müssen – dies würde heutzutage 100 Franken entsprechen. Edna Epelbaum, Präsidentin des Schweizerischen Kinoverbands (SKV) und Inhaberin von Kinos in Biel, Bern, Delémont, Neuchâtel und La Chaux-de-Fonds, bestätigt, dass Smart Pricing immer wieder diskutiert wird, in der Schweiz jedoch aus verschiedenen Gründen bisher nicht eingeführt wurde: «Dieses System würde automatisch den Preis der Blockbuster in die Höhe treiben und den der Autorenfilme massiv senken. Dies liegt nicht im Interesse unserer Kinolandschaft.» Ebenso verweist Epelbaum auf die Vielfalt des Angebots: «Obwohl immer mehr neue Kinos gebaut werden, spielen die Kinos der kleinen und mittleren Agglomerationen nach wie vor eine wichtige Rolle, und dort wäre Smart Pricing nicht vorstellbar.»

Gemäss dem operativen Direktor von Pathé Schweiz, Teodor Teodorescu, «wäre es schwierig, ein derartiges System einzuführen, vor allem wegen der Beziehungen zu den Filmverleihern.» Seine Firma konzentriert sich, wie die meisten Kinobetreiber, auf eine klassischere Preisgestaltung je nach Zielpublikum: Familien, Kinder, Studenten oder Menschen mit Behinderung.



2 I Das Kinoprogramm «crowdsourcen»

Sie träumen davon, gemeinsam mit Freunden oder anderen Zuschauern den Siegerfilm der letzten Berlinale im Kino zu sehen, doch er läuft nirgends in Ihrer Nähe? Sie möchten gerne einen Film Ihrer Kindheit noch einmal sehen, doch er wird in keinem Kino gezeigt? Dann sind Unternehmen wie Tugg, Gathr oder demand.film der richtige Ansprechpartner. Diese Plattformen bieten ihren Nutzern die Möglichkeit, einen Film auszuwählen und via ihr Netzwerk Eintrittskarten zu verkaufen, um ein ausreichendes Publikum sicherzustellen. Gelingt dies dem Nutzer, so wird der Film gezeigt. Dieses System ist interessant für Gesellschaften, Schulen, Hardcore-Fans mit einer starken Community und Produzenten, die ihre eigenen Filme vermarkten möchten. Auf breiter Ebene stösst es jedoch rasch an seine Grenzen. Allerdings eröffnet es eine andere interessante Möglichkeit: Bereits vor Beginn der 2000er-Jahre konnten die Zuschauer bei RTS in «Box office à la carte» während der Sommermonate jeden Montag den Film des Abends auswählen, indem sie per Telefon oder SMS ihre Stimme abgaben. Ein ähnliches System könnte auch in den Kinos eingeführt werden, um das Publikum in die Auswahl der Filme mit einzubeziehen und so Erwartung und Engagement zu schaffen – zwei Kernbegriffe des modernen Marketings. Pathé hat das System für gewisse Open-Air-Vorführungen getestet, es jedoch nie in den Kino­sälen eingeführt.



3 I Anlässe diversifizieren

Gemäss Teodor Teodorescu sind Direktübertragungen von Opern oder Ballettaufführungen sowohl in kommerzieller als auch in kultureller Hinsicht ein Erfolg: «Die Zuschauer sind nicht die gleichen wie in den Filmvorführungen, doch auf diese Art können sie das Kino wiederentdecken. Umgekehrt zieht diese Art von Veranstaltung ein Publikum an, das normalerweise nicht unbedingt in die Oper geht.» Mit rund dreissig Vorführungen pro Jahr spielen die Direktübertragungen für Pathé finanziell eine untergeordnete Rolle, doch sie locken Publikum in die Säle.

Eine andere Möglichkeit, die Nutzung der Kinosäle zu diversifizieren, ist die Vermietung business to business. «Wir haben positive Erfahrungen gemacht mit der Vermietung von Sälen an Unternehmen für ein Firmenfest oder an einen Veranstalter, der einen Film aus den Achtzigerjahren zeigen und anschliessend eine Tanzparty zum Thema organisieren wollte.»

Das Kosmos, der letzte Neuzugang der Zürcher Kinoszene, hat deshalb eine spezielle Abteilung geschaffen, die sich ab September intensiv mit der Ausweitung dieser Tätigkeit befassen wird. Edna Epelbaum wiederum unterstreicht: «Wir haben die Technologie und den nötigen Raum, das macht uns einzigartig. Besonders interessant ist die Vermietung von Kinosälen ausserhalb der üblichen Spielzeiten.»

Im Kosmos wurde bei der Architektur der Säle darauf geachtet, dass auch Podiumsdiskussionen darin stattfinden können, um den Zuschauern wie an Festivals eine zusätzliche Erfahrung zu bieten. «Die erste Reihe klebt nicht an der Leinwand!», erklärt Kinobesitzer Samir lachend. Komfort in den Sälen ist sehr wichtig, darüber sind sich alle Kinobetreiber einig: Mit breiteren Sitzen, grosszügigeren Räumen und begrenzter Platzzahl verfolgen sie eine Strategie, die sich diametral von derjenigen der Billigflieger unterscheidet.



4 I Technologische Innovationen in jede Richtung und für alle Sinne

3D, 4DX, D-Box, IMAX Laser, LED-Bildschirme… «Die Technologie entwickelt sich in unserer Branche rasant», beantwortet Edna Epelbaum die Frage, ob Innovationen für Kinoliebhaber wirklich so wichtig sind. Selbst wenn man nie wissen kann, welche sich langfristig durchsetzen werden, ist man bei Pathé überzeugt, «dass wir investieren müssen, um langfristig zu überleben, sonst besiegeln wir unseren eigenen Untergang.» Wie in allen Bereichen sind technologische Investitionen mit grossem finanziellen Aufwand verbunden und wiederholen sich in regelmässigen Abständen. Teodor Teodorescu fügt an, diese Investitionen seien notwendig, da das Publikum immer wieder Neues sehen wolle. Edna Epelbaumgibt sich zuversichtlich: «Für jede Entwicklung gibt es ein entsprechendes Publikum.»

3D ist längst keine Neuheit mehr, und obwohl es immer noch Zuschauer anzieht, so gehen die Meinungen darüber auseinander, wie Teodor Teodorescu einräumt: «Was dem Ruf des 3D-Kinos geschadet hat, waren Versuche, 3D bei Filmen, die nicht dafür vorgesehen waren, nachträglich hinzuzufügen. Anders als bei jenen Filmen also, die von Anfang an dafür gedacht waren und ein richtiges Eintauch-Erlebnis bieten.» Die Kinobetreiber und Produzenten können daraus eine Lehre ziehen für die Umsetzung der nächsten Schritte wie 4DX, wo Bewegungen des Sitzes kombiniert werden mit Spezialeffekten wie Wind, Regen, Gewitter, Nebel, Schnee, Rauch und Gerüchen.



5 I Die Presse­vorführungen über­denken

«Die jungen Leute lesen keine Filmkritiken in der Zeitung mehr, um sich einen Film auszusuchen... », ist Teodor Teodorescu überzeugt. Zudem wird der Platz für Filmkritik in den Medien im gleichen Rhythmus wie die Budgets gekürzt. Deshalb macht Teodorescu sich Gedanken über die Organisation von Pressevorführungen für Journalisten: «Wieso nicht auch YouTuber und Influencer einladen?» Ein Überdenken der Medienarbeit kann den Kinos nur Vorteile bringen. Selbst wenn die Gefahr von Raubkopien durchaus besteht, so mutet es doch wie eine Erfahrung aus vergangenen Zeiten an, wenn Journalisten vor der Pressevorführung das Mobiltelefon (und somit der Zugang zu den sozialen Netzwerken) weggenommen wird.

Allein im französischsprachigen Raum gibt es unzählige Kino-YouTuber. Auch wenn diese meist bereichsübergreifende oder thematische Ansätze verfolgen, so werden doch neue Filme besprochen. Der bekannteste unter ihnen, le Fossoyeur de Films, bietet Nachbesprechungen («après-séance») an, Amazing Lucie kommentiert neue (und ältere) Filme aus einer feministischen Perspektive und Perle ou Navet beginnt ihren kritischen Beitrag zu «Love, Simon» mit dem Satz: «Ich habe mir diesen Teen Movie nur deshalb angesehen, um zu verstehen, wieso er im Kino gezeigt wird und nicht nur auf Netflix». Die Kinobetreiber würden gut daran tun, sich diese neue Generation von Filmkritikern zu ihren Verbündeten zu machen.



6 I Den Bereich rund ums Kino aufwerten


Im Kulturhaus Kosmos gibt es neben den Kinosälen auch ein Restaurant, eine Buchhandlung, einen Club und einen Veranstaltungssaal. «Ich denke, die Zukunft des Kinos liegt in der Entwicklung von Synergien mit anderen Medien, und wir haben bereits den passenden Raum dazu geschaffen», erklärt Samir. Damit dieses Modell funktioniert, müssen die Verantwortlichen der verschiedenen Bereiche zusammenarbeiten: «Wir können zum Beispiel einen iranischen Film zeigen und im Restaurant iranische Gerichte anbieten. Deshalb wollen wir bewusst nichts auslagern.» Ein Modell, das sich der Hotellerie oder der Gäste­betreuung annähert. Für Frank Braun, Programmleiter bei der Neugass Kino AG, geht es darum, Lösungen zu finden, die nicht rein funktionell, sondern architektonisch einmalig sind. Das Kino Bourbaki in Luzern grenzt an das Rundbild-Museum Bourbaki Panorama, während im Kino Riffraff die Filmvorführungen Lichtspiele in der Bar erzeugen. Dennoch räumt er ein, dass «Zusatzangebote wie Gastronomie die Kinos nicht subventionieren. Doch sie sind ein sozialer Aspekt, der gefördert werden muss. Kinos sollten von einem kulturell reichhaltigen Umfeld umgeben sein.» Das Prinzip ist das gleiche wie das der Multiplex-­Kinos in Einkaufszentren, nur in einem anderen Rahmen und für ein anderes Publikum.



7 I Ein Flatrate-Modell einführen

Zahlreiche Streaming-Plattformen wenden eine Flatrate an, d.h. einen Pauschaltarif, unabhängig von der Anzahl Filme, die pro Monat angeschaut werden. Dieses Modell haben sie keineswegs erfunden; von Fitness­centern wird es in ähnlicher Weise schon lange praktiziert. Dieses System funktioniert derzeit besser als Pay-per-View, das eher einem Kinoticket gleicht. Im Kino wird der Pauschaltarif in Form eines Monats- oder Jahres­abonnements angeboten – nichts Neues also! Pathé Schweiz bietet seit zehn Jahren den Pathé Pass an, der – wie das Abonnement UGC illimité oder der CinéPass der Gaumont-Pathé Kinos in Frankreich – unlimitierten Zutritt zu den Kinosälen bietet, ohne bei jedem Besuch zur Kasse gehen zu müssen. Bei einer monatlichen Gebühr von 40 Franken ist das Abonne­ment ab drei Kinobesuchen pro Monat rentabel. «Für treue Kunden ist dies ein sehr gutes Angebot», so Teodor Teodorescu, «vor allem für diejenigen, die nicht wegen eines speziellen Films kommen, sondern die Erfahrung Kino an sich schätzen.» Die Gruppe veröffentlicht keine Zahlen über die Abonnenten oder über die Anzahl Eintritte, die sie generieren, versichert jedoch, dass das Angebot sehr beliebt ist. In Frankreich gingen im Jahr 2014 etwas mehr als 8% aller Kinoeintritte auf das Konto von Abonnenten. Treue- oder Mitgliedskarten mit Vergünstigungen auf den Eintrittspreis werden von den meisten Schweizer Kinos angeboten, Abonnements hingegen eher selten.



8 I Eine eigene Streaming-­Plattform einrichten

Auf der Website der Neugass Kino AG (Kinos Riffraff und Houdini in Zürich, Bourbaki in Luzern) bleiben die Informationen zu den Filmen auch über die Kinolaufzeit hinaus online. «Wenn die Filme auf DVD oder Blu-ray herauskommen, fügen wir einen Link zu einer entsprechenden Verkaufsplattform hinzu», erklärt Frank Braun. Dieses Archiv ist nicht nur eine Dienstleistung für die Nutzer, sondern bringt dem Kino auch ein kleines Zusatzeinkommen, denn es erhält für jeden Kauf, der über seine Website getätigt wird, eine Kommission.

Zudem lancieren die Neugass Kinos derzeit in Zusammenarbeit mit Rushlake Media in Köln ein Pilotprojekt, das es den Zuschauern ermöglichen soll, weitere Filme zu entdecken, die einen Bezug zum Kinoprogramm haben. Über ihre Website kann via Streaming auf eine Reihe von Filmen zugegriffen werden, die zum Programm passen, zum Beispiel zu einem Schauspieler oder einer Regisseurin, einem Themengebiet oder einer geographische Region. Dieses Kino-on-Demand-Angebot ist nicht an den Kauf einer Kinokarte gebunden und bringt dem Kino für jeden via Streaming angeschauten Film eine Kommission ein. Frank Braun meint dazu: «Natürlich ist dies kein neues Geschäftsmodell, doch wir glauben, dass unser Publikum sich auch über VoD Filme ansieht und dass wir ihm dabei etwas bieten können. Dies stärkt auch die Community rund um unsere Kinos.» Das Projekt soll diesen Herbst online gehen.


▶ Originaltext: Französisch



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